Der Kommentar als wichtigstes Sprach-Werkzeug

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Das wichtigste Sprach-Werkzeug eines Journalisten bleibt der Kommentar. Er gibt die Chance, Zusammenhänge oder Verhaltensweisen von Agierenden einzuordnen. Er ist die Verpflichtung, sich zu positionieren und auch Reibungspunkte zu bieten. Für gute Kommentare gilt: Sie müssen im Kopf des Lesers etwas in Bewegung bringen. Selbst wenn der überwiegende Teil der Leser den Inhalt oder die Schlussfolgerungen für „daneben“ hält, ist das besser, als wenn die Lektüre so nebenbei mitgelesen und schnell vergessen bzw. zu den Akten gelegt wird. In der Kürze und in der Deutlichkeit liegt die Würze…

Wie viele Kommentare in (m)einer Journalistenlaufbahn formuliert werden, lässt sich nicht nachzählen. Jede Woche einen – das ist eine gute Quote. Bei den vielen Kommentaren, die geschrieben werden, bleiben dann auch nur wenige besonders in Erinnerung. Einer dieser Kommentare liegt bereits über ein Vierteljahrhundert zurück. Bereits damals ist es der Leeraner Politiker Gerd Koch, der – noch in den Anfängen –  mit seiner rechtpopulistischen Haltung für Schlagzeilen bzw. Angriffe gegen andere sorgte. So hatte er sich 1996 den zwischenzeitlich verstorbenen Kazim Özdemir ausgesucht, der 1980 die bis heute in Leer ansässige Türkisch-Deutsche Freundschaftsgesellschaft, kurz TDFG, gegründet hatte.

Özdemir, dessen Söhne Ferhat und Serhat sich heute in Leer im Stadtrat politisch engagieren, steht damals seit über 20 Jahren für aktive Integration türkischer Mitbürger in der Ledastadt. Es ist die Zeit, als in Deutschland ausländerfeindliche Anschläge keine Seltenheit sind. In Lübeck sterben im Januar 1996 zehn Menschen bei einer Brandstiftung auf ein Asylbewerberheim. Koch fordert unmissverständlich, dass Türken wie Özdemir aus Deutschland ausgewiesen werden sollen…

Wie also mit dem Thema umgehen? Thematisieren und damit Koch und seinem Angriff eine Bühne geben? Oder einfach „drüber hinweg“ sehen? Es ist eine Grundsatzfrage, die unter Journalisten gerne diskutiert wird. Für mich gibt es immer nur eine Antwort: Aufgreifen, sauber recherchieren, sachlich berichten und dann mit einem Kommentar klar Stellung beziehe. So mache ich es auch bei diesem Thema, wohlwissend, dass es anschließend heftige Reaktionen geben könnte aus beiden Lagern. Der Bericht über den Angriff lässt sich schnell schreiben. Aber wie bitte ein solch ein verachtendes Verhalten kommentieren? Gut, dass ich „nur“ eine Sonntagszeitung redaktionell verantworte. Da habe ich etwas mehr Zeit zum Durchdenken.

Ich entscheide mich für einen Kommentar mit etwa 60 Zeilen Länge. Und davon sind 55 Zeilen, die dem bis heute im Stadtrat aktiven AWG-Politiker Koch absolut Recht geben. Ja, es sei nicht ok, welche Positionen Özdemir beziehen. Ja, es sei nachvollziehbar, dass Koch die „Ausweisung dieses Türken“ fordert. Jeder Satz logisch aufgebaut, jeder Gedanke beim Lesen nachvollziehbar. Ich weiß, dass damals der eine oder andere Leser mit dem Kopf geschüttelt hat, bevor er die Pointe am Ende des Textes gelesen hatte. Denn die hatte es in sich. Zitat: „Eine Kleinigkeit hat Koch allerdings bei seiner Forderung, Özdemir in die Türkei auszuweisen, übersehen: Özdemir ist seit vielen Jahren deutscher Staatsbürger. Aber seien wir doch ehrlich: Würde Koch nicht am liebsten alle ausweisen, die ihm nicht in den Kram passen?“

Bis heute gibt es kaum einen Kommentar, auf den es so viele positive Reaktionen gab, wie bei diesem. Auch Koch reagiert bei der nächsten Begegnung. Das Schimpfwort, das er mir als erstes entgegenschleuderte, habe ich verdrängt. Den Nachsatz nicht: „Dieser Kommentar hat mir geschadet. Aber Respekt für die journalistische Leistung.“ Gut so, es war im Vorfeld der Kommunalwahl 1996 genau der richtige Akzent.

Es bleibt nicht das einzige Mal, dass wir aneinander rasseln, denn seine rechtspopulistischen Haltungen, die mehr als ein gefährliches Werkzeug der politischen Stimmungsmache und ihn erfolgreich bis in die Stichwahl für das Bürgermeisteramt brachten, halten bis heute an – auch wenn er heute im Stadtrat nur noch ein fünftes Rad am Wage ist.

PS: Mit besagtem Koch hatte ich das erste Mal mit 16 Jahren das „Vergnügen“. Diese Erfahrung macht den Umgang als Journalist später nicht einfacher. Ich bin damals Fußballschiedsrichter aus Leidenschaft und leite auch viele Spiele beim VfL Germania Leer. Als ich am 25. November 1986 gegen 13.30 Uhr von der Schule nach Hause komme, habe ich Post vom Rechtsanwalt und Notar Gerd Koch. Er tritt im Namen des Leeraner Traditionsclubs auf und schreibt mir: „Anlässlich der Überprüfung von Belegen hat der VfL Germania Leer festgestellt, dass Sie ganz offensichtlich nach Jugendspielen ihre Spesen nicht ordnungsgemäß abgerechnet haben. Ich habe Sie nicht nur aufzufordern, unverzüglich für eine Rückzahlung der zu viel kassierten Beträge zu sorgen, sondern ich weise auch darauf hin, dass der Schiedsrichterausschuss um Aufklärung gebeten wurde. Weiterhin wird noch zu prüfen sein, inwieweit bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen Sie wegen des Verdachts des Betruges einzuleiten ist. Es wäre sinnvoll, wenn Leute wie Sie aus der Schiedsrichtervereinigung ausgeschlossen würden.“

Nachdem die Tränen kullern, ich am Boden zerstört bin, gehe ich in den Gegenangriff. Mein Vater, ein Schiedsrichterkollege und weitere Kenner der Szene unterstützen mich. Ich habe einen Verdacht: Die Platzwartin und Hausmeisterin des VfL muss meine Belege gefälscht haben und das Geld in die eigene Tasche gesteckt haben. Hinter den Kulissen geht die Post ab – und um 16.20 Uhr steht ein Bote bei uns vor der Haustür. Er bringt einen Brief – Absender: Rechtsanwalt und Notar Gerd Koch. Zitat: „Sehr geehrter Herr Hartwig, ich nehme Bezug auf mein Schreiben, in dem Sie zu Unrecht beschuldigt worden sind. Meine Mandantschaft bedauert dieses außerordentlich, weil sich nunmehr herausgestellt hat, dass offensichtlich eine Mitarbeiterin des Vereins Unregelmäßigkeiten begangen hat. Auch ich persönlich bedauere die offensichtlich zu Unrecht erhobenen Vorwürfe…“.

Es dauert einige Tage, bis ich diese irren drei Stunden richtig einsortiert habe. Ich erinnere mich: Ich fühlte mich wie jemanden, der zu Boden getreten wird, auf den dann eingedroschen wird und bei dem dann kurz danach festgestellt wird: Sorry, Du warst ja gar nicht gemeint. Ich will das so nicht stehen lassen. Ein Brief an die Schiedsrichtervereinigung und an die Rechtsanwalts- und Notarkammer in Oldenburg sind das Ergebnis meiner Gedanken. Beiden schreibe ich, dass ein derartiges Vorgehen von Koch nicht ohne Wirkung bleiben dürfe. Koch wird nie wieder ein Spiel für die Schiedsrichtervereinigung pfeifen – und die Kammer wird auch tätig. Und ich? Ich darf als „Dankeschön“ meines Schreibens an die Notarkammer bei der Polizei eine Aussage machen. Aufgrund meines Briefes hat die Kammer auch die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und Ermittlungen gegen die Platzwartin in Gang gebracht. Der VfL Germania Leer hatte darauf verzichtet, wie ich damals durch meine Recherchen erfahre. Immerhin erfahren ich so, dass meine knapp 20 Mark, die ich zu viel genommen haben sollte, nur ein Bruchteil waren. Wie sich bei den Ermittlungen herausstellte, ist über die Jahre insgesamt ein unterschlagener Betrag von mehreren tausend DM durch von Frau K. gefälschte Belegez usammen gekommen. Insofern habe ich damals am eigenen Leib erfahren: Wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann ist Schweigen kein Weg. Dann hilft es, mit Worten zu agieren. Bis heute eine gute und wichtige Erfahrung.

Holger HartwigDer Kommentar als wichtigstes Sprach-Werkzeug