„Wenn Du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis“ – diesen Spruch kennt jeder. Nun, bei dem, was die Politik in den vergangenen Jahren mit Bürgerbeteiligung bezeichnet, handelt es sich sicherlich nicht um einen Arbeitskreis im klassischen Sinne, aber es ist vom Ansatz her durchaus vergleichbar. Wo einst die Fachleute aus den Ministerien und Verwaltungen und vom Volk gewählte Politiker diskutierten, sind nun Bürgerinnen und Bürger zum Dialog, aber am Ende nur selten auch zur Mitentscheidung eingeladen.
Mitdiskutieren hat Tradition
In Leer kann diese Bürgerbeteiligung auf eine mehr als 20-jährige Tradition zurückblicken. Erstmals bei der Sozialen-Stadt Ost war die Einbindung im großen Stil vorgeschrieben. Wer dabei war, der erinnert sich, was das bedeutet: Lange Diskussionen und teilweise heftige Auseinandersetzungen, als es um Kostenübernahmen und damit die persönlichen Interessen von Eigentümern geht. Und genau da beginnt dann immer die Herausforderung: Wenn es nicht um die Sache, sondern um die Ziele der von Maßnahmen Betroffenen geht. Sei´s drum. Basis-Demokratie ist seit Jahren gewünscht. Besser und schneller macht es Prozesse und Entscheidungen aber – vorsichtig ausgedrückt – nicht immer.
In der Stadt Leer war es nun – wieder – einmal soweit: Im Zuge des Förderprogramms „Perspektive Innenstadt“ durften die Bürgerinnen und Bürger gleich an vier Terminen über jeweils mehrere Stunden „ran“ an die Themen. Die Resonanz auf den Aufruf zum Mitmachen? Schwer zu bewerten, ob 20 bis 40 Teilnehmer an den Workshops bei einer Stadt mit 35.000 Einwohnern viel oder wenig sind. Noch sind bei den Themen Digitalisierung, Perspektiven für die Altstadt und den Ernst-Reuter-Platz sowie Fragen rund um gute Laufwege und die Aufenthaltsqualität in der Stadt keine persönlichen und finanziellen Interessen direkt betroffen.
Generation X,Y, Z glänzt durch Abwesenheit
Was sind nun die wichtigsten Erkenntnisse dieser mehrstündigen Treffen? Die, die da waren, haben dem Vernehmen nach engagiert viele Ideen eingebracht. Die die da waren, waren zum größten Teil „Oldies“, sprich gehörten zu den älteren Semestern. Junge Menschen fehlten selbst beim Thema Digitalisierung. Dabei müssten ja gerade die Generationen X,Y,Z (was kommt eigentlich nach Z?) mitmachen, so wie bei den Fridays for future. Hier wird es die schwierige Aufgabe des Leeraner Rathauses sein, bei weiteren Dialogveranstaltungen viel Zeit zu investieren, damit der Mix besser wird. Mal sehen, ob sich die BBS und die Gymnasien der Stadt „aktivieren“ lassen.
Infos bündeln – Aufgabe für Stadtmanager?
Inhaltlich ist, wie Teilnehmer berichten, einiges auf den Tisch gekommen. Beispiel Digitalisierung. Hier herrscht Einigkeit, dass es an digitalen Informationen über die Stadt keineswegs mangelt. Was hingegen fehlt, ist ein übergreifendes Portal, das gezielt alle Themen – von der Gastronomie, über Handel, Park-, Sehens- und Erholungsmöglichkeiten – bündelt. Keine neue, aber eine wichtige Erkenntnis. Entscheidend ist, was daraus gemacht wird. Vielleicht ist das ein weiterer Aspekt, damit alle Institutionen der Stadt unter Führung des Rathauses mit der Fragestellung in sich gehen, ob es sich Leer im Gegensatz zu anderen Städten weiter leisten kann, keine(n) Stadtmanager/in zu haben. Und das als die selbst definierte Einkaufsstadt Nummer 1 in Ostfriesland.
Ernst-Reuter-Platz: Schluss mit Kleinteiligkeit
Ein weiteres Thema war der Ernst-Reuter-Platz. Hier ist deutlich geworden, dass es in Leer immer etwas länger dauert, bis Plätze mit ihren Möglichkeiten begriffen werden. Leeraner wissen, wie viele Jahrzehnte es gedauert hat, bis Brunnen, Reisebüro und andere Bauten auf dem Denkmalsplatz beseitigt waren, um die Fläche für Aktivitäten nutzen zu können. Ähnlich ist es – so waren sich die Workshop-Teilnehmer wohl einig – bei dem Platz direkt am Hafen. Die Kleinteiligkeit mit Wällen sowie verschenkte Flächen durch Parkplätze verhindern hier eine sinnvolle multifunktionale Nutzung, die über den Wochenmarkt hinaus geht. Was möglich wäre? Die Ideen reichten von flexibler Sommergastronomie Richtung Wasser bis hin zu mehr Platz für attraktive Veranstaltungen. Mal sehen, wie hier – auch ohne Millionenaufwand – die Verwaltung 2023 etwas auf den Weg bringen kann.
Beim Workshop „Laufwege und Aufenthaltsqualität“ sind es vor allem viele kleine Maßnahmen, z.B. eine bessere Beschilderung, die für mehr Attraktivität sorgen könnten, wie die Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Verwaltung deutlich gemacht haben. Denn: Es zeigte sich, dass in Leer fast alles fußläufig gut erreichbar ist und es viele interessante Wege durch Innen- und Altstadt gibt.
Brunnenstraße: Niemand ist aktuell zufrieden
Das vierte Thema, bei dem das Interesse am größten war, war die Altstadt. Viele Aspekte – Handel, Gastronomie, Aufenthaltsqualität kamen auf den Tisch. Da wird es noch viel zu diskutieren geben. Bei einem Thema waren sich alle einig: die Verkehrsführung in der Brunnenstraße. Hier scheint mit der aktuellen Situation niemand zufrieden zu sein. Spannend wird nun, wie hier die Verkehrsexperten an das Thema herangehen, um Fußgänger, Fahrradfahrer und den motorisierten Verkehr unter einen Hut zu bekommen. Das wird nicht einfach, denn – anders als seit den 1970er Jahren bei der großen Fußgängerzone – ist es kaum möglich, die Autos komplett „rauszudrängen“. Bei der großen Fuzo war es der Bau der parallelen Bürgermeister-Ehrlenholtz-Straße mit Ringverkehr – und es dauerte Jahrzehnte, bis das letzte kleine Häuschen, das im Weg stand, abgerissen werden konnte. In der Altstadt ist das nicht möglich. Vielleicht ist die Brunnenstraße ja ein spannendes Thema für Master- oder gar Doktorarbeiten, an denen sich junge und mit dem aktuellsten Wissen ausgestattete Experten austoben können.
Stadtentwicklung mit Menschen statt Schreibtisch-Vision
Die Stadtverwaltung hat nun also gemeinsam mit dem Expertenbüro, das den Dialog moderiert, die Hausaufgaben zu machen. Es gilt zu sortieren, Klarheiten und Wahrheiten zu schaffen, damit Anfang 2023 mit den Bürgern weitergearbeitet werden kann und hinsichtlich möglicher Umsetzungen – von der Finanzierung bis zu rechtlichen Fragen – erste Aspekte geklärt sind. Noch im Frühjahr 2023 soll dann die „Perspektive Innenstadt“ für die nächsten Jahre komprimiert zu Papier gebracht sein. Eines steht fest: Wenn der Dialog gute Ergebnisse bringt, die auch umgesetzt werden, dürfte der neue, junge Stadtbaurat Reiner Kleylein-Klein großes Interesse an weiteren Beteiligungsformen haben. Denn Stadtentwicklung mit den Menschen für die Menschen ist weit wichtiger, als jede große planerische Schreibtisch-Vision.