Die Dosis macht das Gift

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Von Holger Hartwig*

Sie kennen den Spruch „Die Dosis macht das Gift“? Dann wissen Sie, was damit gemeint ist. Zuviel von etwas richtet eher Schaden an, als das es nützlich ist. Gilt dieser Gedanke in jeder Hinsicht? Könnte man meinen. Geht es jedoch um Charakter-, Verhaltens- oder Arbeitseigenschaften, liegt im Erkennen der „Giftdosis“ auch eine große Chance. Es kommt auf die Sichtweise an.

Dazu ein Beispiel aus dem Berufsleben. Der Teamgedanke steht heute in fast allen Unternehmen im Zentrum des Denken und Handeln. Wer als nicht „teamfähig“ gilt, der kann sich darauf einstellen, dass sein Verhalten ihn schnell zum „Problembär“ werden lässt. Dabei kann genau diese „Nicht-Teamfähigkeit“ im entscheidenden Moment zu einer großen Chance werden.

Was ist damit gemeint? Jedes Verhalten oder jede Charaktereigenschaft hat sowohl „gute“ als auch „böse“ Seiten. Leider neigen wir tendenziell dazu, bei einem Verhalten, das in der Situation nicht unseren Vorstellungen entspricht, unseren Fokus auf die negativen Eigenschaften zu richten und andere Aspekte zu vernachlässigen. Am Beispiel der Teamfähigkeit sei es erklärt. Stellen Sie sich eine Zeitungsredaktion vor, in der im Team alle Aufgaben gelöst werden. Das Team hat sich eingespielt, nur der Christian hat immer wieder seine Herausforderungen, sich an die Teamregeln zu halten. Er macht einfach gerne „sein“ Ding – das aber mit hoher Zuverlässigkeit und Qualität. Lange Zeit sorgt das im „Team“ immer wieder für Unruhe. Als eines Tages eine besondere Herausforderung auf das Team zukommt, sich die Teammitglieder verzetteln und keiner die Verantwortung übernehmen will, ist es eben genau dieser Christian – der Eigenbrötler – der nicht lange fackelt, entscheidet und macht. Warum? Er ist es durch sein Handel und seinen Charakter gewohnt, für ihn ist es ja „normal“, alleine vorwärts zu gehen und zu machen, wenn die Situation es erfordert. Das ist eine Stärke, die ebenso wertvoll ist, wie die Teamfähigkeit.

Was diese Situation aufzeigt? Jedes Verhalten hat zwei Seiten. Wer perfekt teamfähig ist, der kann dazu neigen, sich hinter dem Team zu verstecken und der Verantwortung gerne aus dem Weg zu gehen. Wer als nicht teamfähig gilt, der muss für sich seinen Weg immer wieder gehen, ist bereit anzuecken und wird tendenziell einfach machen und nicht auf andere warten. Oder nehmen Sie einen Menschen, der perfekt organisiert ist und als Gegenteil jemanden, der in den Tag hineinlebt. Was meinen Sie, wie sich beide verhalten, wenn etwas sehr ungewöhnliches passiert?

Der Kommunikationsexperte Friedemann Schulz von Thun hat die Sichtweise auf Verhalten und Eigenschaften im Werte- und Entwicklungsquadrat zusammengefasst. Das Modell macht deutlich, dass in jeder negativen, weil zu stark ausgeprägten Eigenschaft auch ein positives Merkmal steckt. Er zeigt mit dem Modell auf, dass es ein großer Vorteil ist, in jeder Lebens- oder Berufssituation, in der mich das Verhalten eines anderen verwundert oder ärgert, den Blick auf die positiven Merkmale des Verhaltens dieser Person zu richten. Die Lösung für das Miteinander ist, über die positiven Eigenschaften zu vermitteln, dass die richtige bzw. passendere Dosis der richtige Weg ist. Bei dem nicht-teamfähigen Kollegen bedeutet das, dass dieser Mensch seinen eigenen Weg durchaus beibehalten darf, weil das auch eine seiner besonderen Stärken ist, und die Aufgabe darin besteht, gleichzeitig anpassungsfähig zu werden, damit es im Team nicht immer wieder zu Schwierigkeiten kommt. Es kommt halt auf die gute Mischung aus Teamfähigkeit und Eigenbrötlertum an. Um diese „Dosis“ zu finden, ist es wichtig, alle (gegenteiligen) Werte und Eigenschaften einer Person zu erkennen und dann gemeinsam in ein passendes Miteinander zu entwickeln. Das ist ein manchmal harter und langer Weg, aber erfolgsversprechender als die Missachtung der vielen unterschiedlichen Fähigkeiten, nur weil sie nicht „ins Team passen“.

Für Gruppen und Teams, aber auch in der Familie gilt: Je facettenreicher die Mitglieder sind, um so mehr ist es die Herausforderung, das Leben und Leben lassen mit den vielen Eigenschaften und Werten der Individuen hin zu bekommen. Das Denken – und eben nicht die pauschale Be- oder Verurteilung – ist dabei entscheidend. Denn manche Eigenschaft, die im ersten Moment nicht „passt“, kann bei anstehenden Herausforderungen genau die Stärke mit sich bringen, die die Situation erfordert.

* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er unterstützt Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.

Holger HartwigDie Dosis macht das Gift