DIE KOLUMNE: Die doppelte Herausforderung der niedrigen Arbeitslosenquote

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Sie kommen so selbstverständlich wie die tägliche Wettervorhersage: die monatlichen Statistiken der Arbeitsagentur und des Zentrum für Arbeit in Leer. Sie gelten als „Wasserstandsmeldung“ für den Zustand einer Region. Hinter den nackten Zahlen jedoch steckt mehr, als sich vermuten lässt. Aktuell werden im Kreisgebiet 4.651 Menschen ohne Job aufgeführt. 5,5 Prozent sind das mathematisch. Das erstaunliche daran: Vor zwei Jahren, als das Wort Pandemie keiner kannte, war es sogar etwas mehr.

Zur Einordnung ein Blick zurück: Für den Kreis Leer sind das goldige Zeiten. Mehr als 30 Jahre zurück galt man als ein Armenhaus der Republik galt. In den 1980er Jahren waren bis zu 30 Prozent ohne Job – und auf dem Ausbildungsmarkt sah es nicht anders aus. Lehre bei eine örtlichen Bank? Dafür war ein Einser-Abitur nötig. Volontariat in einer Zeitungsredaktion – 350 Bewerber bei einem Eignungstest. Es war die Zeit, als sich sonntags Abends unzählige volle besetzte Autos zu Daimler nach Stuttgart aufmachten und offene Stellen absolute Mangelware waren. Die Arbeitslosenzahlen gelten seit Jahrzehnten nicht nur in Ostfriesland bis heute als Spiegelbild für den Zustand der Gesellschaft. Also ist dann heute alles ok in der Region? Ein fataler Irrtum.

Warum? Die aktuellen Zahlen sind nur noch bedingt aussagefähig. Die boomenden Wirtschaft und mehr Abgängen durch Alter aus dem Arbeitsmarkt als junge Kräfte, die bereit stehen, bieten beste Perspektiven. Dennoch sind statistisch immer noch weniger offene Stellen gemeldet als Arbeitssuchende. Das liegt tendenziell auch daran, dass beispielsweise Handwerksbetriebe ihre Mitarbeitenden eher direkt, statt über die Agentur suchen. Bei Lehrlingen ist es oft nicht anders. Erfasst wird die Zahl der wirklich freien Stellen somit schon lange nicht mehr. Gleichwohl dürfte jedem Unternehmer klar sein, dass Stellenmeldungen bei der Agentur auf jeden Fall nicht schädlich sind – und dann auch für eine korrekte Statistik zur Situation auf dem Arbeitsmarkt sorgen, als es heute der Fall ist.

Arbeit gibt es in der Region zwischenzeitlich wohl genug. Der Fachkräftemangel hat die Region längst erreicht. Es fehlt an vielen Stellen bereits an Mitarbeitenden – am augenscheinlichsten im Handwerk. Wer also arbeiten will, der kann – wenn er dann an sich arbeitet, sich qualifiziert und leistungswillig ist.

Und dennoch wird die Zahl der Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit ihren Händen und ihrem Hirn selbst erwirtschaften, sich auch in den nächsten Jahren nicht grundlegend verändern. Allein fast 2.700 Menschen sind aus der Arbeitslosenhilfe I bereits im Kreis Leer rausgefallen, sind längere Zeit ohne Job, oft ohne Ausbildung. Dem größten Teil der Arbeitssuchenden fehlt es schlichtweg an der erforderlichen Qualifikation. Allein in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Logistik, Bauen sind im Bereich der Agentur Emden-Leer etwa 1.350 Stellen unbesetzt. Nicht zuletzt deshalb entwickeln sich Arbeitsagentur und Jobcenter immer weiter weg vom klassischen Arbeitsvermittler zu „Arbeitnehmer-Entwicklungsagenturen“. Immer mit der Hoffnung: Potenziale durch gezielte Weiterqualifikation zu heben, damit der langfristige Bedarf an Arbeitskräften bedient werden kann. Getreu der Devise: Was (noch) nicht passt, wird passend gemacht. Dabei wird der Fokus der Agentur sich sogar stärker auf Beschäftigte richten, die in Lohn und Brot sind. Gemeinsam mit den Arbeitgebern wird es darum gehen, sie fit für die Transformation an vielen Arbeitsplätzen machen, die sich durch die Digitalisierung massiv verändern.

Wie sich die Zahl der Unterbeschäftigung im Kreis Leer in den nächsten Jahren entwickeln wird? Sie geht – eine globale Krise mit Zusammenbruch der Wirtschaft außen vorgenommen – kontinuierlich zurück und wird insgesamt an Bedeutung verlieren. Warum? Bereits jetzt sind 35,7 Prozent der in der Statistik erfassten über 50 Jahre, während der Anteil der jungen Menschen bis 25 bei 8,7 Prozent liegt. Die älteren werden ab dem 65. Lebensjahr nicht mehr in die Arbeitslosenstatistik erfasst, gleichwohl aber finanzielle Unterstützung anderer Art beziehen, weil Rentenansprüche nicht zum Leben reichen.

Es ist an der Zeit, dass eine regionale „Sozialkostenquote“ zur Messlatte der Betrachtung wird. Eine Quote, die Aufschluss darüber gibt, wieviel Prozent aller Haushalte es nicht schaffen, ohne staatliche Hilfe aus welchen Quellen auch immer auszukommen. Und es ist an der Zeit, sich klar zu werden: Mit den heute vorhandenen Arbeitskräfte-Potenzialen, die die Statistiken der Ämter immer noch ausweisen, wird die Wirtschaft auch im Kreis Leer den Bedarf perspektivisch nicht decken können. Andere Regionen sind in die Akquise von Fachkräften oder gezielten „Rückholaktionen“ von Studierenden in die Region bereits deutlich stärker eingestiegen.

Holger HartwigDIE KOLUMNE: Die doppelte Herausforderung der niedrigen Arbeitslosenquote