DIE KOLUMNE: Die grausame Wirklichkeit der Sozialkostenexplosion

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Es sind Zahlen des Grauens: Der Landkreis Leer wird in diesem Jahr etwa 63 Prozent seines gesamten Geldes für den Bereich „Teilhabe und Soziales“ ausgeben. Das sind etwa 283 Mio. Euro von 449,49 Mio. Euro. Das Schlimme daran: Während ein Teil dieser Ausgaben durch den Bund und das Land „erstattet“ werden, verbleiben im so genannten Ergebnishaushalt beim Kreis satte 109 Mio. Euro Eigenanteil. Geld, das für andere Zwecke nicht bereitsteht. Zur Einordnung: Im gleichen Zeitraum stehen – aus dem Finanzhaushalt – lediglich 48,35 Mio. Euro für Investitionen beispielsweise in Schulen, Straßen oder Breitbandausbau zur Verfügung.

Was versteckt sich hinter der Bürokraten-Bezeichnung „Teilhabe und Soziales“? Ganz einfach: Überwiegend Herausforderungen, in denen aus den unterschiedlichsten Gründen eine Mischung aus Bildung, Erziehung, Familie, Arbeiten und gesellschaftlichem Miteinander nicht mehr funktioniert. Zur Verdeutlichung ein kleiner Überblick der zentralen Ausgabentreiber mit den höchsten Ausgaben, die der Kreis zu übernehmen hat:

  • Kinder-, Jugend und Familienhilfe: 63,1 Mio. Euro, Eigenanteil Kreis: 55 Mio. Euro – Anstieg Vorjahr um 24,3 Prozent – 5x soviel wie 2011
  • Hilfen zur Erziehung: 24,4 Mio. Euro, Eigenanteil Kreis: 21,4 Mio. Euro – Anstieg Vorjahr um 14,1 Prozent – Verdoppelung seit 2011
  • Tagesbetreuung: 21,9 Mio. Euro, Eigenanteil Kreis: 20,1 Mio. Euro – Anstieg Vorjahr 49,56 Prozent – 20x soviel wie 2011
  • Jobcenter: 96 Mio. Euro, Eigenanteil Kreis: 15 Mio. Euro – Anstieg Vorjahr 61,6 Prozent
  • Hilfen für Volljährige: 8,9 Mio. Euro, Eigenanteil Kreis: 7,8 Mio. Euro – 13,3x soviel wie 2011

Fest steht: Der Gesetzgeber hat die Ausgaben so im Detail geregelt. Die Betroffenen bekommen das, was ihnen gesetzlich zur Abschwächung ihrer Probleme zugestanden wird. Diese Unterstützungen entsprechen der Lebensrealität vieler Menschen in der Region bzw. im gesamten Land. Sie sind Teil unseres Modells der „sozialen Marktwirtschaft“.

Fest steht angesichts der Zahlen aber auch: Immer mehr Haushalte sind mit dem Alltag und der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Immer mehr – junge – Menschen sind nicht mehr in der Lage, ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen. Das bedeutet: Diejenigen, die bereits in jungen Jahren unterstützt werden müssen, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Leistungsbezieher der Zukunft. Die Kosten werden also zwangsläufig weiter steigen.

Was der Kreis gegen die zunehmenden sozialen Unwuchten und die finanziell katastrophale Entwicklung bei den Sozialausgaben machen kann? Wenig. Am ehesten weiter stark in Infrastruktur für den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen und vor allem in gut ausgestattete Schulen und bessere Kinderbetreuung investieren. Bleibt nur zu hoffen, dass hier nicht schon bald Lehrermangel oder Fachkräftemangel bei Erziehern zum nächsten Knackpunkt werden.

2023 wird der Kreis erneut knapp unter 50 Mio. Euro investieren. Das ist – auch, wenn es aus einem anderen Haushaltsbereich, sprich Finanzhaushalt kommt – in Relation weniger als ein Fünftel der Sozialausgaben. Gut so, dass investiert wird, denn der Nachholbedarf oder die Notwendigkeit an guter Ganztagsbetreuung ist da. Auch wenn die Investitionen bedeuten, dass die Nettoneuverschuldung knapp 19,72 Mio. Euro beträgt. Dadurch steigen die Schulden des Kreises erstmals seit 2014 wieder auf 111,65 Mio. Euro. Auch für die kommenden Jahre werden Schulden erwartet, so dass die mühsame Konsolidierung des letzten Jahrzehnts von 136 auf 95 Mio. Euro sich mathematisch aufheben wird.

Was die Schuldenentwicklung noch stoppen könnte?  Die Masse der Politiker auf kommunaler Ebene müssten bereit sein, endlich gegen ihre „großen hauptberuflichen Kollegen“ auch in den eigenen Parteien nachhaltig aufzubegehren. Mit der klaren Botschaft: „Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen.“ In Summe sind es meist neue Vorgaben vom Land und Bund, die zwar den sozialen Scheinfrieden durch zusätzliche finanzielle Leistungen oder Betreuungsmaßnahmen für Haushalte mit Erziehungs-, Bildungs- und Finanzproblemen festigen, aber die kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mehr denn je stark reduzieren. Jeder Politiker sollte wieder mehr die Verantwortung und die Konsequenzen für sein eigenes Handeln tragen – ein Leitgedanke, der in allen Lebensbereichen der Gesellschaft und vor allem in der Kindererziehung nicht der Schlechteste wäre.

  • Was denken Sie über die Entwicklung? Schreiben Sie mir Ihre Meinung an hh@hartwig-am-sonntag.de.
Holger HartwigDIE KOLUMNE: Die grausame Wirklichkeit der Sozialkostenexplosion