DIE KOLUMNE – Historisch: Stadtrat Leer will millionenschweres Missverständnis beenden

Artikel teilen

Kennen Sie das Sprichwort „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“? Dann verstehen Sie, warum bis Ende Mai eine historische Entscheidung im Leeraner Rathaussaal getroffen wird. Alle Fraktionen des Rates haben entschieden, noch in diesem Monat zu einer Sondersitzung zusammen kommen zu wollen. Namentlich soll – ohne Aussprache – mit einer Dreiviertel-Mehrheit beschlossen werden, ein millionenschweres Missverständnis zu beenden. Damit sollen noch höhere langfristige Kosten für die Kreisstadt verhindert werden. Im Mittelpunkt: der 2022 gewählte Stadtbaurat Rainer Kleylein-Klein („RKK“). Was ist passiert?

Die offizielle Version aus der Politik und dem Rathaus lautet: Es wird von einem gestörten Vertrauensverhältnis zwischen Politik und dem 37-jährigen Stadtbaurat gesprochen, der bis 2030 gewählt ist. Es ist jedoch kein Geheimnis, dass hinter dem Abwahlantrag ein – sagen wir mal so – Verhalten des „dritten Mann im Staate“ steckt, dass selbst bei viel Wohlwollen wenig nachvollziehbar ist. Im Rathaus sind mehrere hundert Mitarbeiter mit offenen Augen und Ohren unterwegs, die längst berichten, dass der Baufachmann seit langer Zeit nicht mehr in seinem Büro gesehen wurde. Hintergrund ist: Er ist schlichtweg arbeitsunfähig. Das kann passieren und das wünscht man keinem. Krankheit ist auch als solches nicht weiter zu bewerten. Ein krankheitsbedingter Ausfall ist kein Grund für ein gestörtes Vertrauensverhältnis. Erst recht keiner für eine Abwahl.

Was ist also in den vergangenen Monaten passiert? Hat es vor der Arbeitsunfähigkeit „gekracht“ zwischen Bürgermeister und Baurat? Hat sich der Baurat mit den Fraktionen in Fragen der Weiterentwicklung der Stadt überworfen? Die Antwort lautet: Nein. Vielmehr hat die Rathausspitze und auch Teile aus der Politik mehrfach versucht, mit RKK Kontakt aufzunehmen, um zu erfahren, wie sich die Situation für ihn darstellt. Dabei ging es – das wird bei Nachfragen unisono glaubhaft erklärt – nicht darum, den Baurat in Schwierigkeiten oder zu viel Persönliches in Erfahrung zu bringen, sondern einfach nach vorne zu schauen. Alle blieben dabei erfolglos. Jegliche Gesprächsangebote – so ergaben die Recherchen – wurden seitens des in der Hierarchie des Rathauses „dritte Mann des Staates“ abgelehnt.

Der Stadtbaurat musste wissen, dass sein Verhalten nur in eine Sackgasse führen kann. Trotzdem hat RKK diesen Weg gewählt. Warum? Vielleicht hat er, der zuvor immerhin Leiter des Bereiches Bauordnung, Bauplanung und Denkmalschutz beim Kreis Gifhorn war, für sich zwischenzeitlich erkannt, dass die Aufgabenstellung in Leer in Summe – verbunden mit der Entwicklung seiner Gesundheit – „zu groß“ ist. Vielleicht hat er selbst erkannt, dass eine Rückkehr an diesen Schreibtisch wenig sinnvoll sein könnte. Oder vielleicht hat auch die Führungsspitze im Rathaus bereits in den ersten Monaten der Tätigkeit 2022 erkannt und RKK signalisiert, dass es notwendig ist, an seinem Führungsstil und seiner Kommunikation zu „arbeiten“. Vielleicht – und das wäre sinnvoll und nicht verwunderlich – die Rathausspitze sogar Unterstützung angeboten. Schließlich wollte man ja diesen Baurat und ein Scheitern der Zusammenarbeit wäre auch ein Zeichen eines Fehlgriffs. Aber das sind Spekulationen. Sie sind zwischenzeitlich auch uninteressant, da mit dem Abwahlantrag Fakten geschaffen wurden.

Warum gibt es genau jetzt den Abwahlantrag, der in der Stadtgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg einmalig ist? Es geht um Geld. Viel Geld. Eine Einleitung einer amtsärztlichen Untersuchung, wie es das Gesetz regelt, wäre auch denkbar. Damit wäre „ermittelt“ worden, wie der Stand der Dinge langfristig ist. Das hätte (vielleicht) zu einer Versetzung in den Ruhestand geführt, wenn der Baurat zur Erfüllung der Dienstpflichten aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft unfähig wäre. So ein „Verfahren“ ist ob der langfristigen Bedeutung aber nicht innerhalb weniger Wochen abzuschließen.

Die Politik musste handeln, denn: Votieren bis Ende Mai 30 von 39 Mitgliedern der Abwahl zu, ist der Stadtbaurat noch nicht zwei Jahre im Amt. Das bedeutet, dass sich seine Ansprüche gegen die Stadt reduzieren. Wahlbeamte können laut Gesetz nicht ohne langfristige Geldzahlungen vom Hofe gejagt werden. Das Ruhegeld, das die Stadt zahlen muss, beträgt bis zum Lebensende bei einer Abwahl bis Ende Mai „nur“ etwa 19.500 Euro statt etwa 34.000 Euro jährlich. Zuvor bekommt RKK – und alle diese Zahlen sind nach dem Beamtenversorgungsgesetz öffentlich – drei Monate sein vollständiges Gehalt von 8.187,44 Euro und danach fünf Jahre 5.874,49 Euro. Wer rechnet, der erkennt: Für den relativ jungen Mann wird daraus eine über – ein langes Leben vorausgesetzt – eine hohe Summe. Und das für auf dem Papier 24 Monate „Tätigkeit“! Eine Summe, die der Stadt so oder so „weh“ tut, weil das Geld an anderer Stelle für Stadtgestaltung oder Personal fehlt.

Für die Politiker ist der jetzige Schritt alternativlos. Die Stadt braucht für die vielen Aufgaben, die z.B. mit der energetischen Sanierung und der kommunalen Wärmewende zu tun haben, mehr denn je einen aktiven Baurat. Einen, der seinen Job dauerhaft gut machen kann. Dazu gehört ein funktionierender Dialog im Rathaus und mit der Politik. Kommunikation ist neben Vertrauen das wichtigste Arbeitswerkzeug.

Fest steht auch: Einfacher wird es auch nach einer Abwahl für die Rathausspitze keineswegs. Bis RKK ins Amt kam, war die Stelle zwei Jahre unbesetzt, weil sich kein geeigneter Bewerber fand. Jetzt muss neu ausgeschrieben werden, um das Führungsteam aus Bürgermeister Claus-Peter Horst und Stellvertreter Detlef Holz zu komplettieren. Der Umstand einer Abwahl kann dabei zur Bürde werden. Vielleicht ist sie für Interessenten aber auch das wichtige Signal, dass in Leer verantwortungsvoll gehandelt wird, weil über Monate die Situation um RKK nicht öffentlich diskutiert wurde und stattdessen alle Fraktionen im Rat und Rathausspitze konstruktiv für die Stadt gemeinsam agierten. Erkennt ein guter Bewerber diese Fähigkeiten des Rates und der Verwaltungsspitze, kann er sich auch sagen: „Prima, in Leer stimmt das Miteinander. Ich muss mit meinen Ideen überzeugen, einen guten Job machen und dann kann ich in Ruhe die Stadt voranbringen.“ Nichts mehr wünschen sich die Bürger – und nicht weniger hat Bürgermeister Horst 2021 mit seinem Wahlslogan „Leer kann mehr“ ja auch versprochen.

 

Holger HartwigDIE KOLUMNE – Historisch: Stadtrat Leer will millionenschweres Missverständnis beenden