Jahrzehntelang war das Industrie- und Gewerbegebiet Leer-Nord ein Sorgenkind. Die Stadt und der Landkreis Leer nahmen vor mehr als 40 Jahren gleichberechtigt viel Geld in die Hand, um eine große Ansiedlungsfläche zu schaffen. Bis auf die Ansiedlung der Firma Kautex passierte wenig, während andere Gebiete dieser Art in der Region sich gut entwickelten. Die Bodenverhältnisse waren schuld. Erst der Bau eines Bahnanschlusses sorgte mit der Ansiedlung von Logistik-Unternehmen für Auftrieb – und der Durchbruch gelang vor wenigen Monaten mit der Ansiedlung des Energieriesen Tennet. Jetzt werden spektakuläre Planungen auf den Weg gebracht – und im Hintergrund überrascht – extern wie intern – eine Personalentscheidung.Fakt ist: Aktuell ist Leer-Nord nahezu „ausverkauft“. Nur noch eine kleine Randfläche ist nach dem Tennet-Kauf von 8,5 Hektar zu haben. Fakt ist auch: Eine Erweiterung um etwa 90 Hektar in nördlicher Richtung wird derzeit planerisch auf den Weg gebracht. Im Flächennutzungsplan – das ist rechtlich die wichtigste Grundlage für die Expansion – ist die neue Fläche bereits ausgewiesen. Die Stadt Leer hat nun eine erste Beratung zum Aufstellen eines konkreten Bebauungsplanes vorgenommen. Wie lang es dauert, bis daraus Baurecht wird, muss sich zeigen. Die Voraussetzungen dafür scheinen gut, auch wenn noch die Frage im Raum steht, inwieweit Planfeststellungsverfahren, die bekanntlich immer Risiken mit sich bringen und Zeit kosten, erforderlich sind. Mit Blick auf die Möglichkeiten, die sich ergeben könnten, wenn die Finanzierung eines späteren Ausbaus der neuen Flächen realisiert wird, hat die Leer-Nord GmbH um ihren gestaltenden Geschäftsführer, den pensionierten langjährigen Wirtschaftsförderer des Kreises Leer, Dieter Schroer (73), langfristige und durchaus visionäre Überlegungen.
Überlegung 1: Das gesamte Gebiet soll trimodal werden. Das bedeutet, das neben Straße und Bahn auch die direkte Anbindung an den Ems-Port-Anleger jenseits des Deiches durch einen Durchstich erfolgen könnte, um die Ems für den Transport von Gütern auf dem Wasserweg zu nutzen. Trimodalität gilt als ein extrem wichtiger Standortfaktor. Was dafür erforderlich wäre? Die Verlängerung des Bahngleises über die Kreisstraße 1 und durch den Deich hindurch. Gebaut und genehmigt werden müsste ein Deichschart. Das ist eine temporäre Öffnung des Deichkörpers für eine Straße bzw. eine Eisenbahnstrecke. Sie wird – ähnlich wie bei der Emsbrücke in Leerort – durch Tore gezielt geöffnet. Was das kostet und wie es finanziert werden könnte? Diese Fragen müssen noch beantwortet werden.
Überlegung 2: Der Bau einer neuen Ladestraße entlang des vorhandenen Bahngleises. Diese Straße soll die Nutzung der Bahn als Transportweg effizienter machen. Dazu ist die Gründung einer Betriebsgesellschaft für den Umschlag angedacht. Derartige Gesellschaften sind in anderen Industriegebieten der Region durchaus selbstverständlich.
Überlegung 3: Wenn Tennet – aktuell läuft die Bauplanung, ein Baubeginn der großen Hallen ist angedacht bis Ende dieses Jahres, eine Fertigstellung der Millioneninvestition bis Ende 2026 – seine großen Hallen gebaut hat, könnten darauf Photovoltaik-Flächen (PV) montiert werden. Da es h jedoch Tennet als Akteur der Energiebranche seit diesem Jahr „verboten“ ist, selbst PV-Anlagen zu betreiben, könnte die kommunale Leer-Nord-Gesellschaft bzw. ein Tochterunternehmen in diese Anlagen investieren. Mit der gewonnenen Energie könnte langfristig Geld verdient werden oder – wenn es der Gesetzgeber mit Blick auf eine Energieversorgung der kurzen Wege, die politisch gewünscht ist – zulässt, die könnten ansässigen Unternehmen preiswert mit Strom versorgt werden.
Während für die Umsetzung dieser drei strategischen Ideen mit Blick auf finanzielle oder planerische Umsetzbarkeit noch unterschiedlich lange Weg zu gehen sind, ist im Hintergrund eine überraschende Personalentscheidung gefallen. Neben Schroer ist bisher der Landrat des Kreises Leer, Matthias Groote, Geschäftsführer. Er hat für sich entschieden, dass er seit dem 31. März 2024 aus der operativen Verantwortung aussteigt. Er will nicht mehr Geschäftsführer sein und hat um seine Abberufung durch die Gesellschafterversammlung gebeten. Warum? Dazu heißt es aus dem Kreishaus auf Anfrage: „Das Industriegebiet Leer-Nord hat sich immer stärker zu einer Drehscheibe der Energiewende entwickelt und soll auch in diese Richtung weiterentwickelt werden. Nach Überzeugung von Herrn Groote kann man diese Aufgabe aber nicht als nebenamtlicher Geschäftsführer wahrnehmen.“ Und weiter: „Für ein größeres Engagement auf diesem Feld lässt ihm das Hauptamt als Landrat keine Zeit – zumal die Herausforderungen durch die originär kommunalen Aufgaben auch steigen.“ Konkrete Fragen, wie die neue Geschäftsführung aufgestellt werden soll, beantwortet der Landrat mit dem Hinweis „dass wir uns zu Personalangelegenheiten öffentlich nicht äußern“. Im Klartext heißt das: Der Landrat wirft hin – ohne dass er für eine Neuaufstellung, offenbar aus seiner Sicht mit einem hauptamtlichen Geschäftsführer, bereits Fakten geschaffen hat. Aus der Kreispolitik heißt es dazu hinter vorgehaltener Hand: Man wusste von nichts. Es war wohl ein Alleingang Grootes ohne Vorankündigung. Bemerkenswert – und zugleich vielsagend mit Blick auf den Landrat, was sowohl sein Fingerspitzengefühl für den Umgang mit Partnern als auch Verantwortungsgefühl in der Sache betrifft.
Was hinter den Kulissen seit der Rückzugsmail des Landrats in der zweiten Märzhälfte passiert, dazu ist wenig zu vernehmen. Allerdings: Es scheint wohl einigen Redebedarf zu geben. So hat der Leeraner Bürgermeister Claus-Peter Horst – er soll von dem Groote-Ausstieg total kalt erwischt worden sein – die städtischen Vertreter der Gesellschafterversammlung für die bevorstehende Woche zu einem Gespräch eingeladen. Der neue zweite, dann vielleicht hauptamtliche, Geschäftsführer wird Geld kosten. Geld, das die Leer-Nord GmbH dank einer bilanziellen millionenschweren Rücklage von zuletzt 2021 ausgewiesenen 4,2 Millionen Euro zwar hat, das aber eher für das investive Agieren gedacht sein dürfte. Aus dem laufenden Geschäftsbetrieb schreibt die Gesellschaft – was normal ist für derartige Konstrukte – nämlich bereits jetzt fast durchgängig ein Minus im kleinsten sechsstelligen Bereich. Insofern muss gut überlegt sein, ob und – wenn ja – wer zu welchen Konditionen die Nachfolge von Groote als Co-Geschäftsführer antritt. Ausgehend davon, dass der „alte Hase“ Schroer, der einen unbefristeten Vertrag hat, dauerhaft an Bord bleibt. Alles andere wäre unsinnig.