Die störenden Kühe

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Es ist die Zeit, in der Kameras noch Filmrollen für Schwarz-Weiß-Bilder haben. Das bedeutet: Bevor der Film nicht entwickelt ist, weiß der Fotograf nicht, ob seine Motive auch etwas geworden sind. Vor allem in der Sportfotografie ist das ein gravierender Nachteil. Einen Moment zu spät abgedrückt – und der Ball ist nicht im Bild. Das Objektiv etwas unscharf eingestellt – und die Szene, die durch die Linse erst so toll aussieht, ist später als Abzug und für den Abdruck in der Zeitung nicht zu gebrauchen.

Während meiner Zeit bei der Rheiderland-Zeitung im Herbst 1990 sind es die allsonntäglichen Touren, die mich als Fotograf herausfordern. Es gilt, vier Fußballplätze in 105 Minuten (Spielzeit plus Pause) anzufahren. Der Zeitplan ist knapp. Die ersten zwei Wochen klappt die „Tour Rheiderland“ prima. Aber ehrlich gesagt – die Bußgeldstelle des Landkreises Leer hätte ihre helle Freude…

Dann steht die Strecke Bingum – Jemgum – Ditzumerverlaat – Bunde an. Es klappt zunächst prima – doch in Oldendorp geht nichts mehr. Kein Unfall. Kein klassischer Stau. Nein – eine Herde Kühe wird nach Hause in den Stall getrieben und stoppt mich mit meinem grasgrünen VW Käfer. Minutenlang stehe ich – ungeduldig – und warte bis eine Kuh nach der nächsten den Weg über die Straße schafft.

Innerlich sieht es mit der Geduld ganz anders aus. Immer wieder der Blick auf die Uhr. Jede Minute zählt, um rechtzeitig die beiden letzten der vier Spielorte zu erreichen. Wird es noch klappen mit den Fotos? Was passiert, wenn auf dem Spielfeld gerade nicht viel los ist? Gestresst komme ich in Ditzumerverlaat an. Ich habe Glück. Es ist viel Betrieb vor dem Gästetor. Da lassen sich schnell Motive „einfahren“. Eines davon wird bestimmt gut und – so hoffe ich – auch „scharf“ sein. Denn Autofokus gibt es schon, aber es muss beim Sport wirklich alles passen inklusive kurzer Belichtungszeit. Auch in Bunde beim TV geht´s wenig später gut zur Sache. Es dauert dann später in der Redaktion in Weener noch etwas, bis der Kollege mit dem entwickelten Filmstreifen kommt. Die „Ausbeute“ stimmt. Glück gehabt. Seit diesem Tag plane ich meine Fahrstrecken zu Terminen immer so, dass ich die Frage im Hinterkopf haben: Wo könnten Kühe über die Straße getrieben werden?

In der Redaktion beginnt anschließend die Zeit am Telefon. Trainer, Fußballobleute und Presswarte der Vereine anrufen. Ergebnisse zusammentragen (das Internet gibt es noch nicht), weil etwa eine Stunde nach Spielschluss die ersten Fußballfans vor der Geschäftsstelle warten. Dort werdeen Schaufenster die Ergebnisse der Mannschaften auf dem Rheiderland ausgehängt – und es wird dann auch gleich kräftig diskutiert, wie es wohl beim TuS, BSV, den Sportfreunden oder Teutonia weitergehen wird… Zu gerne hätte ich mal die Zeit gehabt, den Experten zuzuhören und dann daraus einen Bericht zu machen.

Zurück zu den Telefonaten. Auch das ist eine Herausforderung. Viele Vereinsansprechpartner erreiche in der Dorfkneipe. Die gibt es damals noch in jedem Ort. Dort ist traditionell gerne die „dritte Halbzeit“ angesagt. Meist klappt das auch bestens. Aber bei einem Verein gibt es eine Besonderheit. Der Fußballobmann wechselt gerne zwischen den damals noch drei Kneipen im Ort. An einen Spieltag erinnere ich mich besonders. Ich erreiche ihn erst sehr spät – etwa 90 Minuten nach Spielschluss und diversen Versuchen in einer der drei Kneipen. Ich bin froh, als ich ihn endlich an der Strippe habe. Doch schon bei der ersten Frage merke ich: Das wird spannend. Er scheint aus Enttäuschung die Niederlage schon etwas begossen zu haben. Ich will von ihm als erstes die elf Namen der Spieler wissen, die auf dem Feld gestanden haben. Gemeinsam schaffen wir mühsam zehn. Der elfte Spieler fällt ihm absolut nicht mehr ein. Den Halbzeitstand und die Torschützen bekommen wir dann auch noch zusammen „ermittelt“. Wieviel vom restlichen Spielbericht, der tags darauf im „Bladdje“ erscheint, der Wirklichkeit entsprechen? Ich weiß es nicht. Bestimmt nicht viel.

Beschwert hat sich von den Vereinen niemals jemand über die Spielberichte. Man kennt sich – und die Vorlieben dieses Obmanns halt auch. Am Ende – so lerne ich in dieser Zeit – ist der Sport mit Namen und Fotos das, was am Montag für Gesprächsstoff sorgt und genau das, auf das im Rheiderland niemand verzichten möchte. Selbst, wenn es die Duelle in der 1. Kreisklasse sind. Bis heute weiß ich, wieviel es bei einer Lokalzeitung ausmacht, nah an den Menschen zu sein – mit allen Herausforderungen, für die Mensch und Tier dann auch ab und an sorgen.

Kommentar von Wolfgang Malzahn (12. April 2021):

Das Anrufen in Sportlerkneipen war ein Geduldspiel

„Wie schön, Holger. Meine Anfänge im Journalismus waren genau die von Dir beschriebenen im Lokalsport. Schon als Schüler habe ich in der Sportredaktion ausgeholfen. Mit Kohlepapier wurden die Tabellen überschrieben und so  aktualisiert. Das Anrufen in den Sportlerkneipen war meistens ein Geduldsspiel, und wenn dort die Mannschaft nach einem gewonnenen Spiel laut gröhlte, war ohnehin kaum etwas von den Aussagen des Spielobmanns zu verstehen.  Und wie viele Menschen sich vor dem Fenster des Verlagshauses drängelten, um die dort ausgehängten Ergebnisse zu sehen – unvorstellbar in heutigen Internet-Zeiten. Trotzdem war es eine schöne Zeit. Schön ist es auch, wenn man wieder jemand wie Du in alten Erinnerungen kramt. Ich zumindest habe das sehr gerne gelesen.“


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