2018 hat der Landkreis Leer die Aktion „Wir sind familienfreundlich“ initiiert. Unternehmen aus dem Kreisgebiet werden seitdem mit einem Gütesiegel für ihre familienorientierte Personalpolitik mit familienbewussten Arbeitsbedingungen ausgezeichnet. Die Auszeichnung soll honorieren, dass der Landkreis Leer zugleich attraktiver Lebensraum und Wirtschaftsstandort ist. Landrat Matthias Groote wird bei der zweiten Verleihung des Siegels zitiert mit den Worten: „Und angesichts des immensen Fachkräftebedarfs gewinnt die Balance zwischen Beruf und Privatleben für Unternehmen zunehmend an Bedeutung“. Mit dieser Bedeutung und der Familienfreundlichkeit scheint es im Kreisgebiet allerdings nicht weit hin zu sein. Sie ist offenbar eine „Mangelware“ . Gerade einmal 17 (!) Unternehmen – und dabei tendenziell eher kleinere Betriebe – haben die Auszeichnung bisher halten. Es stellt sich die Frage: Sind die Unternehmen wirklich nicht familienfreundlich?
Woran liegt es, dass das Interesse an der öffentlichkeitwirksamen Auszeichnung so gering ist? Im Nachbarkreis Emsland wird das Siegel – dort vor mehr als zehn Jahren bereits initiiert – hundertfach vergeben und die Firmen zahlen dort sogar Geld für die Prüfung ihrer Familienfreundlichkeit…
Fakt ist: An einem umfangreichen Bewerbungsverfahren, dem sich die Unternehmen für das Siegel stellen müssen, scheitert es nicht. Es ist eine fünfseitige Datei, die per Download auf der Internet-Seite abgerufen werden kann. Sie lässt sich innerhalb weniger Minuten ausfüllen. Auch an den Kriterien, die dort aufgeführt sind, wird es nicht liegen. Sicherlich auch nicht an dem Votum der neunköpfigen (!) Jury, die über die Vergabe der Zertifizierung entscheidet.
Dabei wird die Familienfreundlichkeit in Zeiten des Arbeitskräftemangels immer bedeutsamer. Auch im Kreis Leer sind mittlerweile bei der Agentur für Arbeit fast 1.500 unbesetzte Stellen gemeldet. Familienfreundlichkeit ist damit schon lange nicht mehr nur das seit Jahren gern zitierte Thema für studierte Fach- oder Führungskräfte, sondern ein Baustein, um überhaupt ausreichende Mitarbeitende zu finden. Wenn Mutter und Vater arbeiten können, dann ist das eben auch Mitarbeiter-Potenzial für die Kasse im Supermarkt, in der Pflege, im Dienstleistungssektor oder im Büro.
Was sagt der Landkreis zu der überschaubaren Resonanz seitens der Unternehmen auf das Siegel? Die Antworten auf gezielt gestellte Fragen fallen recht kurz aus. Warum sich bislang nicht mehr Unternehmen beworben haben, könne man „allenfalls vermuten“, heißt es. Der Kreis vergebe die Auszeichnung erst seit 2018 und die Jahre 2020, 2021 und auch 2022 seien von Krisen geprägt. „Das könnte ein Hemmnis sein“, wird aus dem Kreishaus in der Bergmannstraße in Leer spekuliert. Gleichzeitig wird Optimismus ausgestrahlt. „Dass es an familienfreundlichen Unternehmen mangelt, glauben wir nicht.“ Immerhin: Es wird die Notwendigkeit gesehen, die Auszeichnung bekannter zu machen. Das möchte man auch angehen. Als einzige Maßnahme wird konkret ein Imagefilm genannt, um so „die Auszeichnung stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken“.
Fazit: Es ist zu hoffen, dass die Kreisverwaltung mit ihrer Einschätzung recht hat. Wer in die Nachbarregion Emsland schaut, der stellt passend dazu fest: Dort wurde das Thema vom ersten Tag an und sehr viel frühzeitiger mit Power angegangen. Beim Landrat in Leer scheinen andere Themen – z.B. die Ehrenamtsförderung oder das Thema Pflegeberatung und – stützpunkte – mehr Bedeutung zu haben. In der jetzigen Form ist die Zertifizierung jedenfalls mehr Blamage als Auszeichnung für die Attraktivität der Region.
Es bleibt zu hoffen, dass es wirklich an der bisherigen (Vermarktungs-)Strategie des Kreises liegt, dass das Siegel nur so selten vergeben wird. Es ist zu hoffen, dass bereits viele Firmen aktuell neue Ideen und Konzepte für Arbeiten und junges Familienleben entwickeln. Denn wenn gute Möglichkeiten für Mütter und Väter im Vergleich zu anderen Regionen wirklich Mangelware sind, dann wird das in den nächsten Jahren nicht nur eine steigende Zahl unbesetzter Arbeitsplätze geben, sondern die fehlende Attraktivität wird sich auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereich durchschlagen.
Foto: pexels.com