HARTWIG am MITTWOCH ist eine Kolumne, die immer zuerst mittwochs in der Ostfriesland-Ausgabe der Nordwestzeitung und der Emder-Zeitung erscheint.
Was haben Pastoren, Politiker und Journalisten gemeinsam? Erstens: Alle drei haben als ihr Werkzeug das Wort. Zweitens: Allen dreien laufen tendenziell die Mitglieder, Wähler und (Zeitungs-)Abonnenten weg. Und alle drei suchen nach Wegen, wie sie Menschen für sich und den Glauben, Meinungen oder Produkte begeistern können. Für alle drei Gruppen gilt dabei: Je mehr sie auf die Menschen zugehen, je näher sie ihren Themen des Alltags sind, um so erfolgreicher sind sie.
In Leer geht nun die evangelisch-lutherische Kirche mit ihren insgesamt fünf Gemeinden einen völlig neuen Weg, um die Kurve der Kirchenaustritte abflachen zu können. Ab diesem Freitag gibt es zunächst befristet für fünf Jahre in der Ledastadt den ersten Stadtpastor. Hinter dem Begriff „Stadtpastor“ steckt ein bundesweit einmaliges Konzept, das von der Landeskirche Hannover unterstützt wird. Der Stadtpastor wartet nicht darauf, dass die Menschen in die Gotteshäuser kommen. Nein, er geht gezielt dahin, wo die Menschen sind. Auf den Denkmalsplatz, auf den Wochenmarkt, zum Bahnhof, im Einkaufzentrum und überall dort, wo das Leben spielt. Er will mit neuen Aktivitäten Akzente setzen lassen – ganz nach dem Motto „Kirche kann sich sehen lassen“. Der neue Pastor Ralph Knöfler, der aus Potsdam kommt, will mit Aktivitäten und Aktionen bewusst überraschen, Aufsehen erregen und – wie es in dem Konzept wörtlich heißt – „einen missionarischen Aufbruch vermitteln“. Dabei wird auf ein niederschwelliges Angebot gesetzt, dass Kirche für neue Besuchergruppen – beispielsweise auch Touristen – zugänglich macht.
Das Konzept das Stadtpastors setzt auf ein aktives Netzwerk. Der Stadtpastor soll als Marke in der Stadtgesellschaft etabliert werden. Er will Bindeglied und Motor für Aktivitäten nicht nur zwischen den verschiedenen Konfessionen in der Stadt, sondern vielmehr auch ein Netzwerk mit Partnern aus der Wirtschaft, Bildung, Kultur, Verwaltung und Politik. Der Grundgedanke dabei: Begleiten, initiieren und moderieren. Bereits bevor Pastor Knöfler
sein Amt antritt, hat hier die Lutherkirchengemeinde erste Weichen gestellt und Gleise gelegt, die nun mit Leben erfüllt und Stück für Stück in die unterschiedlichsten Richtungen weiter ausgebaut werden sollen. Mit dem 62-Jährigen Knöfler kommt ein Geistlicher in die Stadt, der in Potsdam sein Motto „Begegnung“ lebte, unter anderem, in dem er als zertifizierter Gäste-, Stadt- und Kirchenführer auf Menschen zuging, hinhörte und nachfragte Ein Pastor, der – wie er von sich sagt – „wenn es nötig ist, auch mutig Grenzen überwindet“. Nach einer kurzen Einarbeitungsphase soll es dann im Frühjahr 2022 mit ersten konkreten Aktivitäten los gehen.
Bei den Kirchen-Verantwortlichen in Leer ist man sich bewusst, dass das Projekt Stadtpastor „von oben“ aus den Kirchenstrukturen sehr genau beobachtet wird. Diese neue Form des kreativen Christentums ausgerechnet aus dem beschaulichen Ostriesland – damit haben die Leeraner überrascht. Es liegt nun an den Gemeinden und den vielen gesellschaftlichen Akteuren in Leer, aus diesem Konzept eine Erfolgsgeschichte weit über kirchliche Grenzen hinaus zu machen. Eine Erfolgsgeschichte, die das Miteinander in vielerlei Hinsicht stärken kann.