„Weltlichen Pop vor den kirchlichen Karren zu spannen, kommt gut an“

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„Auf einen Tee mit …“ – Johannes Geßner, Kirchenmusikdirektor des Sprengels Ostfriesland-Ems

LEER Er ist seit Februar dieses Jahres Kirchenmusikdirektor des Sprengels Ostfriesland-Ems sowie Kantor und Organist an der Lutherkirche Leer: .Johannes Geßner. Der 39-jährige Familienvater ist in die Ledastadt mit eindeutigen Vorstellungen gekommen, die die Verantwortlichen mittragen. Er, der zuvor mehrere Chöre und ein Kammerorchester in Lennep geleitet hat, will den Stil der Musik in den Kirchen der Region mit modernen Pop-Musik aktueller machen. In der Rubrik „Auf einen Tee mit…“ spricht Geßner über seinen neu gegründete Chor, über die für das nächste Jahr geplante „Ostfriesische Singschule“, seine größte Herausforderung in der neuen Aufgabe, sein vor kurzem abgeschlossenes Masterstudium in Rotterdam und wie er Musikstücke komponiert.

Wenn mir jemand gesagt hätte, dass zu der ersten Probe eines neuen Pop-Chores in Leer etwa 150 Sängerinnen und Sänger kommen, dann…

… hätte ich vermutlich gesagt: Du spinnst. Das war sehr überraschend. Ich wusste, dass ein reiner Popchor unter professioneller Leitung in Ostfriesland eine Marktlücke ist, aber mit soviel Resonanz habe ich nie gerechnet. Ich freue mich sehr darüber.

Einen Chor zu leiten, bedeutet…

… für mich vor allem, die Menschen da abzuholen, wo sie stehen und sie wert zu schätzen, weil sie ihre Freizeit mit mir und dem Singen verbringen wollen.

Wenn ich mich an meinen ersten Auftritt als Musiker erinnere, dann…

… erinnere ich mich an sehr viel Lampenfieber. Es war das Klassenvorspiel bei meinem Klavierlehrer. Ich war acht Jahre alt. Die Anfänger waren wie ich zuerst an der Reihe. Mein Ziel war klar: Ich wollte es irgendwann an das Ende des Programms schaffen.

Für die Aufgabe in Leer habe ich mich entschieden, weil …

… es vom ersten Moment hier sehr sympathisch war. Die Mitglieder der Gemeinde sind mir sehr offen und positiv begegnet. Es war eine Bewerbung nach dem Motto: Ich habe mein Konzept, Musik in die Kirche zu bringen, die überall gehört wird. Dieses Konzept, weltliche Pop-Musik vor den – etwas salopp ausgedrückt – kirchliche Karren zu spannen, ist gut angekommen.

Moderne Rock-Musik auf der Orgel zu spielen…

… ist für mich selbstverständlich. Ich spiele von Barock bis Rock alles, das sollte jeder Organist können, denn wir leben ja nicht in einem Museum.

Wer aus der Kirche austreten will, dem antworte ich, dass …

… es sicherlich gute Gründe dafür finden lassen. Aber: Mit dem Austritt lässt man auch die zurück, die gute Arbeit machen beispielsweise in der Diakonie. Es ist zu oft einen reine Protesthandlung und trifft dann auch die Falschen.

Die größte Herausforderung im Amt der Kirchenmusikdirektors ist …

…  die Leeraner wieder mehr dazu zu bewegen, in die Konzerte zu kommen. Das klappt aktuell noch nicht so, wie ich es mir wünsche.

Wenn mir jemand sagt „Warum lässt Dein Gott zu, dass in der Ukraine Krieg geführt, gemordet und sinnlos zerstört wird“, dann reagiere ich darauf mit und sage, dass…

Darauf zu antworten, fällt mir schwer. Ich bin kein Theologe. Die Antwort darauf überlasse ich den Experten. Kurz gesagt: Ich weiß es nicht, ich bin – wie man so sagt – auch nur ein ganz normaler Mensch.

Das Projekt „Ostfriesische Singschule“ ist für mich…

… eine große und schöne Aufgabe. Sie soll 2023 in Leer starten und dann auf Ostfriesland ausgedehnt werden. Ziel der Singschule ist es, Kindern und Jugendlichen eine Ausbildung in Theorie und mit praktischer Stimmbildung im klassischen und populären Milieu zu ermöglichen. Derzeit führe ich viele Gespräche mit Partnern, denn wir werden diese Singschule nicht im Alleingang machen.

Ein Musikstück zu komponieren…

… ist eine spannende Aufgabe. Ich setze mich ans Klavier, wenn ich eine Idee zu einem Thema habe und dann geht es ganz langsam los. Es ist wie ein Samen, der gesät wird. Aus einem kleinen Anfang wird dann etwas Schönes werden.

Mit dem Masterstudiengang „Vocal Leadership“ will ich…

… die kirchliche Chormusik in die Gegenwart holen. Ich habe Kirchenmusik studiert. Dort sind die Methoden und Probentechniken teilweise etwas in die Jahre gekommen. Es gibt neue  pädagogische Ansätze in Probentechnik und Chorleitung generell. Die Ansätze sehen den Chorleiter mehr als Coach als einen Lehrer. Der Studiengang in Rotterdam ist in dieser Hinsicht einer der führenden in Europa.

Mein Lebensmotto ist…

Habe ich eines? Vielleicht der Choral „Sollt ich meinem Gott nicht singen?“ Der ist aus dem 17. Jahrhundert aus der Zeit des 30-jährgen Krieges. Für mich gilt: Ich habe ausreichend Gründe, dankbar zu sein für das, was ich erleben darf.

Ich habe das letzte Mal gelogen, als…

 … bei einem Konzert, als ich nett sein wollte, weil er Auftritt so – sagen wir mal – naja war.

Mein Lieblingsplatz in Leer ist…

… es gibt zwei: Natürlich an der Orgel in der Lutherkirche und am Hafen auf der Promenade.

Ich kann mich so richtig aufregen über…

… unflexible Menschen, die nicht offen sind, weil sie meinen, dass nur ihre kleine Welt zählt und die nur bis an den Tellerrand schauen können.

Ich kann mich so richtig freuen über, …

 … meinen Sohn.

Kraft kann ich tanken, wenn…

… ich Musik mache.

Ich sollte mal wieder…

 … Sport treiben. Ich habe mal Badminton gespielt, aber das ist schon etwas her. Ich habe mir ein Fahrrad gekauft, denn das macht hier in der flachen Gegend Spaß.

Mein größter Fehler ist, dass …

…  ich manchmal zu ungeduldig bin.

Wenn ich drei Wünsche frei habe, dann…

…  habe ich nur einen: Es mögen allen Menschen gut gehen, so wie sie es sich wünschen.

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Leserzuschrift von Adolf Schünemann (Leer):

„Eine Weltordnung, die nur gut tut, gibt es nicht“

Sehr geehrter Herr Hartwig,

Ich habe Ihr Interview mit Herrn Geßner mit Interesse gelesen. Dabei haben mich Ihre Fragen nach „Gott“ bzw. „Kirche“ besonders bewegt. Da diese Fragen von allgemeinem Interesse sind, und sich eigentlich jeder davon angesprochen fühlen kann, möchte ich dazu ein paar Anmerkungen „in den Ring werfen“.

  1. Die Frage „Warum lässt Dein Gott zu, dass in der Ukraine Krieg geführt wird ……..“ bezeichne ich als eine „Zuschauer-Frage“, die aus sicherer Distanz und ohne eigene, innere Beteiligung ausgesprochen werden kann. („Dein“ Gott – und was ist mit „meinem“ Gott?). Eine solche Frage , so gestellt, wird „Gott“ nicht gerecht. Man kann nicht als Zuschauer an ihn glauben – oder nicht glauben.
  2. Wie sollte Gott diesen Krieg beenden? Oder gar nicht erst angefangen sein lassen? Putin abschaffen, ihn mit einer sozusagen himmlischen Pinzette aus der Welt herausnehmen? Aber dann käme ein anderer, Bolsonaro, Trump z.B.  wären die nächsten Kandidaten.

Ich sage: Eine Weltordnung, die nur gut ist, gibt es nicht.

  1. Haben Sie schon mal gefragt, wieso Gott es zuläßt, dass Sie Ihren vollen Einkaufswagen durch den Supermarkt schieben, und Frau XY aus Simbabwe kann das NICHT? Was hat Frau XY denn falsch gemacht?
  2. Ich bin überzeugt: Wenn „die Kirche“, also alle, die sich zur Gemeinde Jesu Christi halten, aufstehen würden und mit einer einzigen, gemeinsamen Protestkundgebung gegen diesen Angriffskrieg Stellung beziehen würden – wie immer diese auch aussehen mag – – das würde eine gehörige Wirkung haben. „Christen sind Protestleute gegen den Tod“ – hat es einmal jemand gesagt.
  3. Fazit: Die Frage, die Sie an Gott stellen, ist immer eine Frage, die auf uns selbst zurückfällt. WIR haben undumm und leichtfertig in diese Situation hineingebracht. WIR tun nicht das, was nötig ist, um diese Situation zu lindern oder zu beenden. WIR versuchen nur, unsere Haut zu retten.
  4. Abschließend möchte ich auf das Glaubensbekenntnis hinweisen, das Dietrich Bonhoeffer in einer noch schlimmeren Zeit, und mit wahrlich innerer Beteiligung und unter persönlichem Erleiden, geschrieben hat (ich nehme an, Sie als kirchlich Interessierter dürften es kennen):

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen ……

Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

Ich vermute, dass er schon sehr lange warten muss.

Und das hat mit Ihrer Frage bezüglich des Kirchenaustritts zu tun. Wäre es nicht schade, wenn die Stimme dieses wartenden Gottes verstummen würde? Man muss bei der Kirche nicht nur an ihre Vereinsstruktur denken, sondern kann sich auf das besinnen, was im Glaubensbekenntnis steht:

Ich glaube an die heilige christliche Kirche, – und das ist die Kirche derer, die sich zu dem gekreuzigten und auferweckten Jesus Christus hält, und die darin das Wirken Gottes in dieser Welt zu verstehen versucht.

In dem Interview wurde ja auf die Theologen verwiesen. Ich bin so einer, wenn auch im Ruhestand. Und als solcher habe ich versucht, auf die oben erwähnten Fragen ein paar Hinweise beizusteuern. Diese sind aber nicht nur fachtheologischer Art, wie Sie sicher verstehen.

Mit freundlichem Gruß

Adolf Schünemann

Holger Hartwig„Weltlichen Pop vor den kirchlichen Karren zu spannen, kommt gut an“