Das kleine Kind im erwachsenen Menschen

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Von Holger Hartwig*

Wissen und Erfahrungen behindern. Über diesen Satz kann oder muss man etwas länger nachdenken, bevor man ihn begreifen kann. Denn gewöhnlich ist die Betrachtungsweise eine andere: Wer Erfahrungen „in der Sache“ oder aus dem Leben mitbringt bzw. über viel Wissen verfügt, der gilt als qualifiziert. Für berufliche oder fachbezogene Aufgabenstellungen mag das zutreffen. Allerdings: Für den Umgang mit selbst gemachten Erfahrungen und das Wissen darum ist das größte Hindernis.Warum? Wenn es um uns selbst geht, speichern wir Erfahrungen über den Verstand und über die körperliche Reaktion. Meist unbewusst. Und genau dieses „Abspeichern“ hat mehr Einfluss auf künftige Lebensmomente, als wir es erahnen.

Dazu zwei Beispiele:

Im Alter von 10 bis 16 Jahre hat ein Junge sehr unter dem Mobbing seiner Mitschüler gelitten. „Du Fettsack“, „Da kommt das fette Schwein“, „Na, sollen wir Dich lieber ins Ziel rollen“ (beim 100 Meter Lauf), „Sollen wir mal mit anpacken, damit Du die Turnstange hochkommst“)  – das sind nur einige von vielen Beispielen, die gerne auch mit ablehnenden Verhalten kombiniert wurden. Ganz zu schweigen davon, dass beim Mannschaftssport immer zum Schluss die Bemerkung bei der Wahl der Mitspieler war: „Na, den müssen wir ihn ja nehmen.“

Mittlerweile ist aus dem Jungen ein Mittfuziger geworden, der durch regelmäßige sportliche Aktivitäten dafür gesorgt hat, dass sein Körper mit dem von einst nichts mehr gemeinsam hat. Der Mann hätte allen Grund, mit sich zufrieden zu sein. Dennoch hadert er mit dem einen oder anderen Pfund zu viel. Im seinem Kopf sind die Erfahrungen der Schulzeit tief gespeichert – inklusive der fitten Astralkörper der Mitschüler aus jener Zeit. Er sieht sich unbewusst in Relation der körperlichen Fitness der Mitschüler. Dabei würde er sich – heute in der Reihe mit den gealterten Kollegen von einst stehend – nicht mehr verstecken müssen. Denn so manch einer hat weit mehr Pfunde zugelegt, als der junge Mann damals hatte. Wird er sich nun bewusst, dass es hier das Wissen und die Erfahrung und das Bild im Kopf von einst sind, die ihn hindern, zufrieden mit sich zu sein, dann wird er die Zufriedenheit finden, die auch mehr als berechtigt ist.

Das zweite Beispiel: Aus dem Mädchen von einst ist heute eine erfolgreiche Unternehmerin geworden. Doch so gut das Geschäft auch läuft und so zufrieden die Kunden sind, antwortete die Mittvierzigerin: „Das ist gar nicht mein Erfolg. Ich hab soviel Glück gehabt. Meine Mitarbeiter sind dafür verantwortlich. Irgendwann wird sich das auch so herausstellen.“ Stimmt natürlich überhaupt nicht, da die Mitarbeiter nur so erfolgreich sind, wenn die Chefin sie einstellt und den Rahmen dafür schafft. Aber warum zweifelt die erfolgreiche Unternehmerin? Auch hier ist es die Kombination aus Erfahrungen und Wissen aus der Kindheit. Immer wieder habe sie zu hören bekommen von den Eltern, den Geschwistern, den Lehrern und den Mitschülern, dass auch ihr sowieso nichts werde und sie ja nichts könne. Ein Lob für was aus immer? In dieser Zeit absolut undenkbar. Auch hier haben Geist und Körper sich so tief im Unterbewusstsein verankert, dass auch 30 Jahre später immer wieder der „Ich kann nichts-Reflex“ inklusive sich selbst in Frage stellen „zuschlägt“.

Wie es gelingen kann, dass Wissen und Erfahrungen nicht mehr im Hier und Jetzt behindern? Der erste Schritt ist, sich seine wiederholenden Verhaltens- und Reaktionsmuster genauer anzusehen und sich beispielsweise zu fragen: Warum weise ich Lob und Komplimente immer gerne zurück? Warum reagiere ich auf Kritik wiederholt hoch emotional und stelle alles in Frage? Die Antwort wird sich aus der Sozialisation in der Kindheit meist leichter finden lassen, als es auf den ersten Blick zu erwarten ist.

Denn: Die Erfahrungen werden in der Kindheit mit Perfektion „abgespeichert“. Sie prägen bewusst oder unbewusst unser Denken, führen sehr gerne zu viel Grübeleien (Warum ich? Warum ist da so? Was ist mir mir?) und viele der Antworten werden  für das weitere Leben gerne zu einer Art „Wissen“. So lebt das kleine Kind unbewusst im erwachsenen Menschen weiter und verschafft sich bei manchen Menschen, die nie darüber nachdenken, bis zum Lebensende ihren Raum.

Wer sich dieser Erfahrungen und dieses Wissen und wie es unsere Gedanken und damit unserer Verhalten über Jahrzehnte prägen kann, bewusst wird, der wird erkennen: Das Hier und Jetzt lässt sich manches Mal einfacher gestalten, wenn „alte“ Erfahrungen und Wissen abgehakt sind und stattdessen der Moment mit allen aktuellen Fähigkeiten (und nicht nur den Möglichkeiten aus dem Kindesalter) gemeistert wird.

* Der Autor ist Systemischer Coach, Kommunikationspsychologe (FH) und Heilpraktiker für Psychotherapie. Er coacht Menschen bei Herausforderungen, die das Leben privat oder beruflich mit sich bringt.

Holger HartwigDas kleine Kind im erwachsenen Menschen