DIE KOLUMNE – Bürgergeld im Kreis Leer: Von einer fehlenden Statistik und der Mentalitätsfrage

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Bürgergeld im Kreis Leer: Von einer fehlenden Statistik und der Mentalitätsfrage

Bürgergeld – selten hat ein Wort die Frage aufgeworfen, ob es sich überhaupt noch lohnt, weiterhin arbeiten zu gehen. Die Bundespolitik reibt sich an dem Thema. Die einen wollen knallhart durchgreifen: Menschen sollen mit allen Mitteln ans Arbeiten gebracht werden, weil es viele freie Stellen gibt und Arbeitskräfte fehlen. Die anderen sehen sich in der Einführung des Bürgergeldes bestätigt und eine – sorry für die Wortwahl –  mutmaßliche„Faulheit“ in der Gruppe der Bürgergeldempfänger gibt es nicht. Wie sieht es im Kreis Leer aus? Wie viele Menschen leben hier aktuell vom Geld des Jobcenters? Wie viele dieser Bürgergeld-Empfänger könnten in Arbeit zurückvermittelt werden? Wie lange bleiben sie in ihren neuen Jobs oder werfen sie bereits nach wenigen Tagen das Handtuch?

Die Antworten kann – teilweise – das Zentrum für Arbeit („Jobcenter“) des Kreises Leer geben. Als Erstes der Blick in die Statistik: Im Kreis Leer sagen die verfügbaren Daten aus, dass es 4.927 Bedarfsgemeinschaften (Haushalte mit Empfängern von Leistungen) gibt. Insgesamt haben 9.832 Menschen Anspruch auf Leistungen. Zieht man davon schulpflichte Kinder unter 15 Jahren und Erwerbsunfähige ab, zeigt sich, dass nur knapp die Hälfte – also 5.000 – überhaupt in Jobs vermittelt werden könnte. Der andere, große Teil hat Daueransprüche. Was bei der Zahl der Leistungsempfänger insgesatm noch zur Wahrheit dazugehört: Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist seit 2013 – also vor der Flüchtlingswelle 2015 und dem Ukraine-Krieg – um fast das Fünffache gestiegen, von 850 auf nunmehr 3.880 Personen.

Wie erfolgreich ist das Leeraner Jobcenter, Menschen in die tägliche Arbeit zurückzubringen? Bei einem sehr großen Teil der Erwerbslosen ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Jeder vierte Leistungsempfänger ist länger als zwei Jahre ohne Job, über 30 Prozent sogar länger als vier Jahre. Dennoch gelingt es: 2023 traten 1.219 Personen eine sozialversicherungspflichtige Arbeit an, 339 starteten Jobs ohne Versicherungspflicht. Eine beachtenswerte Quote für das Jobcenter mit seinen heute 161 Vollzeitstellen, wovon 81 in der Jobvermittlung agieren. Landesweit liegt das Jobcenter Leer, bei dem das Personal seit 2013 um über 20 Prozent reduziert wurde, damit auf Platz 10 von 45. Potenzial zur weiteren Vermittlung besteht dennoch: 702 offene Stellen sind bei der Arbeitsagentur für den Bereich Leer gemeldet, für die Region Leer-Emden sind fast 1.500 Ausbildungsplätze unbesetzt. Das sind offizielle Zahlen, wobei bei weitem nicht alle Arbeitgeber ihre freien Stellen der Agentur für Arbeit melden.

Spannend wird es bei der Frage, was nach dem Jobantritt passiert. Hier weiß so machner Arbeitgeber viele Geschichten zu erzählen. Liegt die „Durchhaltezeit“ eher bei drei Tage, drei Wochen, drei Monaten, drei Jahren oder dauerhaft? Genau das bleibt ungewiss, denn das Jobcenter hätte nach eigenen Angaben dazu gerne Informationen, es gibt jedoch keine rechtliche Handhabe, solche Auskünfte zu erfragen und diese dann statistisch aufzubereiten. Auch die Arbeitsagentur liefert laut Jobcenter diese Daten nicht, was an sich verwunderlich ist: Es sollte keine Herausforderung darstellen, zu ermitteln, wie schnell ein ehemaliger Leistungsempfänger wieder zur – sorry – „Kundschaft“ zählt. Das dies nicht geschieht, ist absolut ärgerlich und vollkommen unverständlich. Eine solche Statistik könnte die in der Bevölkerung geäußerte Mutmaßung „Die wollen ja gar nicht mehr arbeiten“ extrem entkräften…

Und was kosten die Bürgergeld-Empfänger den Staat bzw. den Landkreis? Dazu zwei Zahlen: Die Summe der Zahlungen an die Leistungsempfänger belief sich 2023 auf 58,1 Mio. Euro. Im statistischen Mittel werden somit für jeden Haushalt mit Bedarfsberechtigten knapp 1.000 Euro monatlich steuerfrei gezahlt (inklusive der Kostenübernahme für Warmmiete). Zu berücksichtigen ist bei diesem Mittelwert, dass die Haushalte sehr unterschiedlich sind und von der Einzelperson mit weniger Anspruch bis zur Großfamilie reichen. Der Aufwand für die Betreuung und Vermittlung belief sich  2023 auf 13,1 Mio. Euro, wovon etwa 2 Mio. Euro der Landkreis Leer zu übernehmen hat. durch das Jobcenter fallen „pro Nase“ weitere etwas mehr als 100 Euro Kosten pro Monate an.

Zum Abschluss der Blick in die „Sanktionen“, die von der Politik derzeit so heiß diskutiert werden. Kürzungen werden vorgenommen, wenn ein Betroffener zumutbare Arbeit, eine Ausbildung oder Eingliederungsmaßnahme ohne wichtigen Grund ablehnt, d.h. diese nicht antritt, oder sich nicht wie vereinbart „beim Amt“ meldet. Die Realität im Jobcenter in Leer spricht eine eindeutige Sprache: Ganze 24 (!) Pflichtverstöße gab es in 2023, 366 Mal wurden geforderte Meldungen versäumt, so dass nur in sehr wenigen Fällen Zahlungen gekürzt wurden. Maximal können – wenn „Verfehlungen“ in Kombination vorliegen – bis zu 30 Prozent der Zahlungen nur für maximal drei Monate gekürzt werden, wobei die Kosten für die Wohnung nicht gekürzt werden dürfen. Die Kunden des Jobcenters scheinen also tendenzill sehr pflichtbewusst und jobinteressiert zu sein.

Was diese Statistiken in Summe bedeuten? Erstens: Ohne Zuzüge von Ausländern hätte sich die Zahl der Bürgergeld-Empfangsberechtigten um 30 Prozent reduziert. Zweitens: Die dringend benötigten Arbeitskräfte für die freien Arbeitsstellen sind zahlenmäßig ausreichend vorhanden. Drittens: Die Zahl der Menschen, die sehr lange nicht gearbeitet haben und dadurch nur sehr schwer wieder an die Arbeit zu gewöhnen sind, ist extrem hoch. Viertens: Das Jobcenter ist sehr bemüht, Menschen zu „aktivieren“, kann allerdings nichts zu Langzeiteffekten dieser Bemühungen aussagen. Und Fünftens: Das Einführen von „Sanktionen“ (zeitbegrenzten geringfügigen Leistungskürzungen) scheint kein wirklich geeignetes Mittel zu sein, Menschen zur Arbeitsaufnahme zu „zwingen“.

Was bleibt an Erkenntnissen? Bei allen politischen Forderungen und Analysen, wie mehr Menschen in ein Leben mit regelmäßiger Arbeit zu bringen und zu motivieren sind, ist die zentrale Frage wohl eher: Wie kann es gelingen, einen Mentalitätswechsel zu schaffen? Vor allem ist das erforderlich, um „den Laden am Laufen zu halten“ und langfristig zu sichern, dass die, die wirklich nicht arbeiten können, dauerhaft sozial abgesichert sind.

Erinnert sei bei der Mentalitätsfrage an die Generation, die Deutschland nach dem Krieg aufgebaut hat: Viele Frauen – auch die Großmutter des Autors dieser Zeilen – hatten später im Leben nur wenig Rente. Nach heutigen Maßstäben so wenig, dass man sich fragt, wie ein Leben überhaupt funktionieren konnte. Auf den Hinweis, dass es ja auch Unterstützung vom Staat gibt, kam aus dieser Generation meist nur eine Antwort: „So weit kommt das noch! Ich will doch nichts geschenkt haben!“ Zur Not wurde nebenbei etwas durch Nähen oder gelegentliches Putzen dazuverdient, um über die Runden zu kommen. Heute ist die Mentalität anders: Der Staat – also die Steuerzahlenden – haben dafür zu sorgen, dass die Lebensverhältnisse – auch die der Erwerbslosen – annehmbar sind. Das war in der Bundesrepublik Deutschland zwar schon immer so, nur dass es für die Menschen jahrzehntelang selbstverständlicher als heute war, für sich selbst Sorge zu tragen zu müssen – und das war gut so.

Holger HartwigDIE KOLUMNE – Bürgergeld im Kreis Leer: Von einer fehlenden Statistik und der Mentalitätsfrage