Als Ossi bei den Ossis

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2. Dezember 1990, Nieselregeln, Bundestagswahl – und Sachen packen für den neuen Lebensabschnitt. Mit gerade einmal 20 Lenzen als Ostfriese geht es in die neuen Bundesländer. Als echter Ossi (zumindest bis zum Mauerfall) zu den neuen Ossis – ein Abenteuer vom ersten Moment an.

Jeder Tag ist ein Erlebnis. Die Lebensumstände sind komplett anders, das Umfeld auch. Salopp gesagt: Ostfriesland ist die eine Po-Backe im hohen Norden Deutschlands, Wolgast und Usedom die andere. Nur, dass die in Meck-Pomm jede Menge Pickel hat. Die Straßen und Häuser sind meist kaputt, die Versorgungslage ist anders (Cola im ehemaligen HO-Markt, jetzt bona, kostet pro Flasche 2,50 DM, tiefgekühlte Pizza ist nicht zu bekommen) und Restaurants von der Pizzeria bis zum Griechen sind Mangelware. Nachmittags ist es gegen 15.30 Uhr dunkel, Telefon gibt es nicht und und und. Die neuen „Ossis“ sind zudem komplett anders geprägt.

Für mich als Ossi aus dem Westen ist jeder Tag eine Herausforderung. Auch beim Aufbau des Verlages, schließlich sollte ich mit meinen jungen Jahren gar nicht erst versuchen, auf „Chef“ zu machen, auch wenn ich – selbst noch Azubi – dank des Vertrauens meines Chefs fast alles machen darf und Tag für Tag Entscheidungen treffen muss. Ich finde meine ganz eigenen Wege, wie ich mit den Menschen am besten zu Recht komme. Auf jeden Fall nicht als „arroganter Wessi-Arsch“ (gern gewähltes Zitat in diesen Zeiten). Meine Erfahrungen als Fußballjugendtrainer und als Schiedsrichter sind dabei rückblickend unbezahlbar gewesen.

Zwei Erlebnisse sind mir als der Wessi bei den Ossis besonders in Erinnerung geblieben. So bin ich Anfang 1991 bei einer Familie zu Gast, die von zweifelhaften Wessis beim Hauskauf auf das Übelste über den Tisch gezogen wurden (da sind die hohen Preise für Schrott-Autos, die in 1990 gefordert wurden, moralischer Kinderkram gewesen). Ich komme mit dem Ehepaar ins Gespräch und irgendwann erzähle ich auch etwas aus meiner ostfriesischen Heimat. Die beiden schaue mich auf einmal völlig komisch an. Es dauert, und dann fragen sie: „Sie kommen aus dem Westen?“ Ja, antworte ich, ohne zu wissen, was das für den weiteren Verlauf des Termins bedeutet. Darauf die Frau: „Das kann nicht sein. Sie sind der erste Wessi, den wir treffen, der nicht mit Krawatte und Alu-Koffer vor unserer Tür stand.“ So viel zu Klischees. Sie haben mich nicht rausgeworfen und es ist eine sehr intensive journalistische Geschichte geworden.

Natürlich hat mich in den vier Jahren auch bewegt, wie die Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. Nie werde ich den Tag vergessen, als mir ein Kollege erzählte, wie schwer es sei, aus den Akten der Staatssicherheit erfahren zu haben, dass der eigene Bruder intimste Informationen weitergegeben habe. Auch bleiben mir viele Gespräche in Erinnerung, in denen die Ossis mir ihr Unverständnis aufzeigten, dass die Wessis immer meinten, dass in der DDR alles schlecht gewesen sei. Man habe das Leben gelebt, wie im Westen auch. Zusammen gearbeitet, zusammen gefeiert und zusammen getrauert. So wie überall. Jeder habe gewusst, dass es die Firma Horch & Guck gibt – und jeder habe ein Gespür entwickelt, damit umzugehen. Auf die Frage, wie sich das Leben zwischen gestern und heute unterscheide, antwortet mir eine Kollegin 1992: „Ganz einfach: Wenn ich früher einen Nachbarn gefragt habe, ob er mir helfen kann, dann hat er gefragt: Was hast Du denn? Frage ich ihn heute, dann fragt er mich: Was bekomme ich dafür?“ Und als zweites sagt sie: „Früher hatten wir Geld, aber es gab nicht viel zu kaufen. Heute gibt es alles zu kaufen, aber wir haben nicht das nötige Geld.“

Bis heute erinnere ich mich immer mal wieder an diese Geschichten und dann ärgere ich mich, dass es immer noch Wessis gibt, die über die Ossis herziehen, ohne vor Ort gewesen zu sein. Und ich bin dankbar, dass ich die Herausforderungen mit damals knapp 20 Jahren vielleicht auch etwas leichtsinnig, weil ich nicht geahnt habe, was mich erwartet, angenommen habe. Es ist schön, bis heute an alle Orte, an denen ich war, und zu den Menschen, die noch leben, zurückkehren und als „Ossi“ begrüßt zu werden.

Foto: Markus Lenk / pexels.com

Holger HartwigAls Ossi bei den Ossis