DIE KOLUMNE: „Jobwunder“ Verwaltung und kein Ende in Sicht

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Bürokratieabbau – dieses Wort steht seit mindestens einem Vierteljahrhundert auf der politischen Tagesordnung. Was bei dieser Frage auf allen politischen Ebenen – von der EU bis in die Gemeinden – erreicht wurde? Nichts. Oder korrekter gesagt: das Gegenteil. Zwei aktuelle Zahlen aus dem Kreis Leer verdeutlichen das. Die Kreisverwaltung soll in diesem Jahr das erste Mal in ihrer Geschichte die Schallmauer von über 1.000 Mitarbeitenden überschreiten. 1.085 sind es, ein „Wachstum“ von 116, wobei man fairerweise 45 Stellen abziehen muss, die von der Stadt Leer durch die Übernahme der Kindertagesstätten bedingt sind. 1991 waren es noch 740. Bei der Stadt sieht es jedoch genau so aus. Dort steigt die Mitarbeiterzahl so stark wie nie seit den 1990er Jahren um 19,5 Stellen auf insgesamt 326 Fachkräfte an. Rechnet man die etwa 140

Auf die Frage, warum immer mehr Personal benötigt wird, heißt es aus beiden Verwaltungen sehr ähnlich: Es sind die zusätzlichen Aufgaben, die sich aus Gesetzesänderungen und Bestimmungen von Bund und Land ergeben. Zudem – so heißt es sehr ehrlich – „steigen aber auch die Fallzahlen, so dass deutlich mehr Arbeit anfällt“. Ein großer Zuwachs sei derzeit insbesondere im Bereich der Teilhabe zu verzeichnen (z.B. auch Wohngeld). Erhöhter Aufwand ist die Folge. Bestes Beispiel: der „Benigsbogen 3.0 Bedarfsermittlung Niedersachsen im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem SGB“. Der hat weit über 100 (!) Seiten und ist Voraussetzung, bevor an Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Einschränkungen nur ein Cent gezahlt werden kann. Bei der Stadt werden zudem noch Themen wie Gemeinwesenarbeit Weststadt oder Präventionsrat als Gründe genannt.

Ist zu befürchten, dass sich das „Jobwunder“ mit immer mehr Stellen in den Verwaltungen fortsetzt? Ja. Die nächsten „Gesetzesmonster“ sind bestimmt bereits mit Blick auf Klimawandel, Gendergedöns, Sicherheit auf Baustellen oder an Dokumentationspflichten in der Mache. Schließlich wollen auch die immer mehr Beschäftigten in Brüssel, Berlin oder Hannover oder in irgendeinem Bundesaufsichtsamt ausgelastet sein.

Gibt es Hoffnung? Wenig. Beim Kreis werden weniger Stellen nur dann erwartet, wenn komplette Aufgaben wegfallen. Die Stadt Leer hofft darauf, dass durch mehr Digitalisierung „Prozesse medienbruchfrei realisiert werden können“ (Zitat) und dadurch weniger Arbeitskräfte erforderlich sind. Diese Hoffnung mit Beginn des IT-Zeitalters und Excel & Co. hat sich schon einmal zerschlagen, da heute berechnet, analysiert und begutachtet wird, wozu im Zeitalter vor der EDV die Zeit fehlte. Wenn überhaupt, dann könnte der Fachkräftemangel helfen. Bei der Stadt sind aktuell zehn Stellen unbesetzt, die Kreisverwaltung verweist auf tagesaktuell freie Stellen auf der Homepage. Tendenz steigend, denn die starren Tarifverordnungen lassen den Chefs wenig finanziellen Spielraum zur Steigerung der Attraktivität eines Verwaltungsarbeitsplatzes, zumal Aspekte wie Sicherheit des Jobs, Work-Life-Balance und Vereinbarkeit von Beruf und Familie etc. auch in der freien Wirtschaft zur Selbstverständlichkeit werden.

Kurzum: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in den nächsten Jahren die Bearbeitungszeiten bzw. Wartezeiten bei Anträgen, Genehmigungen etc. weiter verlängern, ist größer als der Wegfall von Vorschriften und Gesetzen. Schließlich heißt es auch nicht ohne Grund Stadt- oder Kreis-Verwaltung und nicht Stadt- oder Kreis-Gestaltung Leer.

Der Ausweg: Die große Politik begreift endlich, dass der Kollaps droht, und handelt. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Was helfen kann? Auf lokaler Ebene mehr „Mut zur Lücke“, indem auch einmal – wo es geht – entschieden wird, obwohl vielleicht nicht jedes Detail „ausgefüllt“ wurde. Oder bei manchen Dingen – genannt sei beispielsweise einmal ein Bußgeld für den fehlenden Antrag bzw. die Genehmigung einer Bordsteinabsenkung bei Schaffung eines Pkw-Stellplatzes – wieder zugelassen wird, dass bewusst ein Auge zugedrückt wird. Das gab es früher nämlich durchaus durch mutige Mitarbeitende mit rückgratstarken Vorgesetzen. Mehr Entscheidungs- statt Absicherungsmentalität jedes Einzelnen ist gefragt. Nur: Das wird wohl auch nicht funktionieren. Schließlich gibt es ja immer irgendeine Aufsichtsbehörde oder ein Gericht, das sich dann – wenn geprüft wurde – kümmert. Aber die haben ja auch bald einen Fachkräftemangel…

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Foto: pexxels.com/cottonbro studio

Holger HartwigDIE KOLUMNE: „Jobwunder“ Verwaltung und kein Ende in Sicht