DIE KOLUMNE: Der Ernst des Lebens trifft auf Schulbauoffensive

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 In der kommenden Woche ist es wieder so weit: Für 377 Kinder in der Stadt Leer beginnt der „Ernst des Lebens“. Das ist eine für dieses Jahrtausend rekordverdächtig hohe Zahl. 2013 waren es lediglich 279 Kinder, die lesen und schreiben lernten – in zehn Jahren also ein „satter“ Anstieg von über 35 Prozent. Mit diesem Startschuss wächst die Zahl der Pennäler an den Einstiegsschulen ein weiteres Mal: Insgesamt werden in Leer 1.318 Kinder in den Klassen 1 bis 4 mit dem Erlernen von Grundkenntnissen und Fähigkeiten für ein erfolgreiches Leben fit gemacht.

Auf den ersten Blick ist dieses „Wachstum“ ein Grund zur Freude: Kinder sind unsere Zukunft. Die Gründe für den Anstieg liegen jedoch wohl weniger in einer neuen Kinderfreundlichkeit der Deutschen, sondern – und das ist weder politisch noch gesellschaftspolitisch als Bewertung zu sehen – sind begründet in den Flüchtlingswellen und der allgemeinen Zuwanderung. Für die Schulen und das Lehrerkollegium, aber auch für den Schulträger, die Stadt Leer, hat die Art des Zuwachses durchaus Folgen mit Blick auf die Vermittlung der Inhalte (Stichwort Sprachherausforderung), Anzahl und Ausstattung der Schulräume sowie Größe der Schulklassen.

Was lag also bei der Recherche zu den anstehenden Einschulungen nahe? Die Frage nach der Herkunft und – denn auch das zeigt sich für die Lehrer als immer größere Herausforderung – der Sozialstatus der Kinder. Die Antwort? Über die Zusammensetzung der insgesamt 377 Kinde, die in der kommenden Woche eingeschuld werden, lässt sich aktuell nichts Genaues sagen. Nein, dieses Mal spielte der Datenschutz (ausnahmsweise) keine Rolle. Die Stadt Leer – als Träger der Schulen und damit für anstehende Millioneninvestitionen für das Lernen in der Kreisstadt verantwortlich – schrieb: „Die Angaben werden von uns als Schulträger nicht erfasst, da der Schulträger nur für Gebäude und Ausstattung der Schule zuständig ist“. Eventuell, so heißt es weiter aus dem Rathaus, könnte das Regionale Landesamt für Schule und Bildung Auskunft geben, „allerdings wird die Schulstatistik dort auch erst im September erhoben“. Ebenso konnten keine genauen Angaben gemacht werden, wie viele der Kinder aus Haushalten kommen, die in sozial herausfordernden Verhältnissen leben und damit die Berechtigung haben, eine jährliche Schulgeldpauschale von 174 Euro zu erhalten. Das wiederum liegt daran, dass die Stadt und der Kreis für derartige Zahlungen verantwortlich sind.

Nun, man könnte ja meinen „Kind ist Kind“. Wer mit Leeraner Pädagogen und auch Eltern, die schulpflichtige Kinder haben, spricht, der benötigt allerdings nicht lange, bis er feststellt: Die Faktoren Sprachfähigkeit, die soziale und kulturelle Herkunft oder Lebensweise spielen eine ganz wesentliche Rolle beim Lernerfolg und auch für das Miteinander in einer Klasse. „Müller, Meier oder Schulzes“ sind fast überall in der Minderheit. Beispielsweise sprechen die meisten der Kinder, die aus der Ukraine geflohen sind, kein Deutsch, nehmen aber trotzdem am Unterricht teil, und können meist nur in den Fächern Mathematik und – wenn sie etwas älter sind – Englisch folgen.

Kurzum: Es stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass in der „Statistik-Oase Deutschland“, wo fast alles erfasst und ausgewertet wird, nicht alle Sozial-Daten zu den Schülern rechtzeitig vorliegen, um als Planungs- und Steuerungsgrundlage für die Schulleitungen und der Stadtverwaltung als Hausherr von Nutzen sein zu können.

Hinzu kommt in Leer der problematische Zustand der Grundschulen. Die Stadtverwaltung ist aktuell dabei, die richtigen Weichen durch ein noch nie da gewesenes Investitionsprogramm zu stellen. „Schulbauoffensive“ wurde das getauft, was bis 2028 die teils maroden Schulen ergänzend zur bereits weitgehend erfolgten Digitalisierung mit Netzanschluss, digitalen Tafeln und Tabletts flott machen soll. Endlich hat der Stadtrat die Notwendigkeit erkannt, dass jahrzehntelange „Gießkannenprinzip“ der Investitionen beendet sein sollte, die Stadtverwaltung legte im Juni 2023 eine erste umfassende Bestandsaufnahme vor. Das Ergebnis war erwartbar, aber doch ernüchternd.

Für die Grundschule Bingum wird beispielsweise ein Abriss und Neubau empfohlen, bis auf die in Sanierung befindliche Hoheellernschule sind alle Schulgebäude zudem mit Schadstoffen belastet. Noch liegen keine exakten Zahlen auf dem Tisch, in die Haushalte der kommenden Jahre ist aber bereits heute ein stattliches Investitions-Volumen eingestellt: Bis 2030 werden es wohl an die 50 Mio. Euro werden. Darin enthalten sind dann auch Anbauten von Mensen, denn bisher sind nur zwei der sieben Schulen im Ganztagsbetrieb, d.h. nur dort ist die Mittagessen-Versorgung garantiert, die politisch auf allen Ebenen gewollt ist – als Teil der Chancengleichheit. Zudem soll dann an allen sechs weiteren Schulen – die Hoheellernschule ist bald damit ausgestattet – die Nachrüstung mit so genannten großen und kleinen „Differenzierungsräumen“ erfolgen, die für Religions- oder Sprachunterricht, Gruppenarbeiten oder spezielle Fördermaßnahmen genutzt werden sollen. Womit sich der Kreis schließt, denn die Anzahl und Größe dieser Räume dürfte maßgeblich auch von der aktuellen und künftigen Schülerstruktur abhängig sein. Man darf zudem sehr gespannt sein, wann und wo dazu in den politischen Beratungen in den nächsten Jahren belegbare Zahlen, Daten und Fakten auf den Tisch kommen – auch wenn die viele nicht hören oder lesen wollen.

  • Die Details zu Schulbauoffensive der Stadt Leer lesen  Sie in dieser PDF-Datei (Link anklicken)

2 Schulbauoffensive Stadt Leer – Stand Mitte 2023

Holger HartwigDIE KOLUMNE: Der Ernst des Lebens trifft auf Schulbauoffensive